Emil oder Ueber die Erziehung
Geschlechts zu trotzen wagen und mit tugendhafter Unerschrockenheit diese so süße Pflicht erfüllen, die ihnen die Natur auferlegt. Wären doch die verlockenden Güter, die denen zu Theil werden, welche sich dieser Pflicht hingeben, im Stande ihre Zahl zu vermehren! Unter Hinweis auf Schlußfolgerungen, die sich schon aus dem geringsten Nachdenken ergeben, und auf Beobachtungen, deren Nichtigkeit mir bisher Niemand hat in Abrede stellen können, wage ich es, diesen ihren Mutterberuf so treu erfüllenden Frauen eine aufrichtige und beharrliche Zuneigung ihrer Männer, eine wahrhaft kindliche Zärtlichkeit ihrer Söhne und Töchter, die allgemeine Hochachtung und Wertschätzung, glückliche Niederkünfte ohne Unfälle und Folgen, eine feste und kräftige Gesundheit und endlich das Glück zu verheißen, sich dereinst von ihren eigenen Töchtern nachgeahmt und als Vorbild für die anderer Eltern hingestellt zu sehen.
Keine Mutter, kein Kind! Zwischen ihnen sind die Pflichten gegenseitig, und werden sie von der einen Seite schlecht erfüllt, so werden sie auch von der anderen vernachlässigt. Das Kind muß seine Mutter lieben, noch ehe es weiß, daß ihm dies die Pflicht gebietet. Wird die Stimme des Blutes nicht durch Gewährung und treue Abwartung gestärkt und gesteigert, so erlischt sie schon in den frühesten Jahren, und das Herz stirbt, so zu sagen, noch ehe es geborenwird. Schon von den ersten Schritten an sagen wir uns von der Natur los.
Zu demselben Resultate gelangen wir jedoch auch auf dem entgegengesetzten Wege, dann nämlich, wenn eine Frau ihre Muttersorgen, anstatt sie zu vernachlässigen, übertreibt, wenn sie ihr Kind vergöttert, wenn sie seine Schwäche vermehrt und nährt, um es nicht zum Gefühle derselben gelangen zu lassen, und wenn sie in der Hoffnung es den Naturgesetzen entziehen zu können, alle schmerzlichen Berührungen von ihm fern hält, ohne zu bedenken, daß sie dasselbe grade dadurch, daß sie es für den Augenblick vor geringem Ungemach behütet, für die Zukunft nur um so größeren Unfällen und Gefahren aussetzt, und wie barbarisch eine Vorsicht ist, die nur den Erfolg haben kann, ihm auch unter den Mühen und Arbeiten, die das Mannesalter erheischt, die Schwäche des Kindesalters zu erhalten. Thetis tauchte, nach der Sage, ihren Sohn, um ihn unverwundbar zu machen, in die Fluten des Styx. Diese Allegorie ist schön und deutlich. Die grausamen Mütter, von denen ich rede, handeln anders: dadurch daß sie ihre Kinder in die Weichlichkeit eintauchen, härten sie sie nicht gegen die Leiden ab, sondern machen sie erst recht empfänglich für dieselben, öffnen ihre Poren allerlei Uebeln, denen sie sicherlich als Erwachsene zum Opfer fallen werden. [16]
Die erste Regel ist, die Natur zu beobachten und dem Wege zu folgen, den sie vorzeichnet. Sie übt stetig und ununterbrochen die Kinder; sie härtet ihren Körper durch die mannigfaltigsten Prüfungen ab; sie macht sie schon früh mit Schmerzen und Beschwerden vertraut. Das Zahnen setzt sie fieberhaften Erscheinungen aus, heftiges Leibschneiden ruft bei ihnen krampfartige Zufälle hervor, anhaltender Husten droht sie zu ersticken; die Würmer quälen sie; Vollblütigkeit verdirbt ihre Säfte, Magensäure belästigt sie und ruft gefährlichen Ausschlag hervor. Fast das ganze erste Lebensalter ist eine Reihe von Krankheiten und Gefahren; die Hälfte aller Kinder, die geboren werden, stirbt noch vor dem achten Lebensjahre. Im Kampfe mit diesen Prüfungen gewinnt aber das Kind Kräfte, und versteht es erst einmal das Leben richtig anzuwenden, so wird auch der Lebensgrund fester und gesicherter.
So lautet die einfache Regel der Natur. Warum handelt ihr derselben zuwider? Begreift ihr nicht, daß ihr in dem vergeblichen Wahne, sie zu verbessern, ihr Werk zerstört, daß ihr den Erfolg ihrer Bestrebungen vereitelt? Auch äußerlich das thun, was sie innerlich thut, haltet ihr für eine Verdoppelung der Gefahr, und doch ist es geradeim Gegentheil eine Ablenkung, eine Abschwächung derselben. Die Erfahrung lehrt, daß von den verzärtelten Kindern eine ungleich größere Anzahl stirbt als von den übrigen. Wenn man nur nicht über das Maaß ihrer Kräfte hinausgeht, so läuft man bei entsprechender Anstrengung derselben weniger Gefahr als bei übertriebener Schonung. Uebt sie also mit Rücksicht auf die Schicksalsschläge, welche sie einst zu ertragen haben werden. Härtet ihre Körper gegen die Rauheit der Jahreszeiten, der Klimate, der
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