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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Mutter bewahrt hat, nur eine Art Gnade ist, während die, welche es seiner Pflegemutter erzeigt, mehr den Charakter einer schuldigen Dankbarkeit an sich trägt: denn schulde ich, wo ich mütterliche Sorgfalt erfahren habe, nicht kindliche Anhänglichkeit?
    In eigentümlicher Weise sucht man diesem Uebelstande abzuhelfen; man flößt nämlich den Kindern Geringschätzung gegen ihre Ammen ein, indem man dieselben auf die Stufe gewöhnlicher Mägde herabdrückt. Wenn die Dienste der Amme nicht mehr erforderlich sind, so entzieht man das Kind ihrer Pflege oder verabschiedet sie. Man nimmt sie schlecht auf, um sie von einem öfteren Besuche ihres Säuglings zurückzuschrecken. Nach Verlauf weniger Jahre sieht er sie nicht mehr, kennt er sie nicht mehr. Die Mutter, welche glaubt, den Platz derselben im Herzen des Kindes einnehmen zu können und sich einbildet ihre frühere Vernachlässigung durch ihre Grausamkeit wieder gut zu machen, gibt sich einer Täuschung hin. Anstatt einen verdorbenen Säugling in ein zärtliches Kind zu verwandeln, übt sie ihn vielmehr in der Undankbarkeit; sie hat ihm ein Beispiel gegeben, woraus er lernen wird, dereinst diejenige, welche ihm das Leben gab, mit derselben Geringschätzung zu behandeln, wie diejenige, die ihn mit ihrer Milch genährt hat.
    Gern würde ich bei diesem Punkte noch länger verweilen, wenn es nur nicht so entmuthigend wäre, nützliche Gedanken immer und immer vergeblich zu wiederholen. Weit mehr, als man denkt, steht damit im engsten Zusammenhange.Wollt ihr, daß Jedermann wieder seiner ersten und heiligsten Pflicht eingedenk sei, nun dann beginnt bei den Müttern; ihr werdet über die Veränderungen erstaunen, welche ihr damit bewirkt. Aus dieser ersten Verderbniß ist nach und nach alles übrige Unheil hervorgegangen: alle sittliche Ordnung leidet darunter; die Natürlichkeit erlischt in Aller Herzen, das Innere der Häuser verliert an Leben, das ergreifende Schauspiel einer heranwachsenden Familie vermag keine Anziehung mehr auf die Männer auszuüben, flößt den Fremden keine Achtung ein; man erweist der Mutter, deren Kinder man nicht sieht, weniger Rücksicht. Das innige Familienleben lockert sich; die Gewohnheit verstärkt die Bande des Blutes nicht mehr; es gibt keine Väter, keine Mütter, keine Kinder, keine Brüder, keine Schwestern mehr; kaum kennen sich alle untereinander, wie sollten sie sich also lieben? Jeder denkt nur an sich. Wenn das Haus nur eine traurige Einöde ist, dann muß man seinen Vergnügungen wol außerhalb desselben nachgehen.
    Wenn sich jedoch die Mütter dazu verstehen, ihre Kinder selbst zu nähren, so werden sich die Sitten von selbst bessern, werden die natürlichen Gefühle in Aller Herzen wieder erwachen; der Staat wird sich wieder bevölkern; schon diese erste Folge, diese Folge allein, wird Alles wieder vereinigen. Der Reiz des Familienlebens ist das beste Gegengift gegen den Verfall der Sitten. Der fröhliche Lärm der Kinder, den man für störend und lästig hält, wird mit der Zeit angenehm; er macht Vater und Mutter einander unentbehrlicher, einander lieber; er knüpft das eheliche Band, das sie vereinigt, enger und fester. Wenn ein Geist gegenseitiger inniger und lebhafter Zuneigung die Familienglieder aneinander kettet, dann bilden die häuslichen Sorgen die liebste Beschäftigung der Frau und den angenehmsten Zeitvertreib des Mannes. Auf diese Weise würde schon die Beseitigung dieses einzigen Fehlers bald eine allgemeine Besserung herbeiführen, würde die Natur bald wieder in alle ihre Rechte eintreten. Mögen die Frauen nur erst wieder Mütter werden, dann werden die Männer auch bald wieder Väter und Gatten sein.
    Aber leider sind das verlorene und überflüssige Worte! Nicht einmal der Ueberdruß an den weltlichen Vergnügungen führt zu den geschilderten Freuden zurück. Die Frauen haben aufgehört Mütter zu sein und werden es nie wieder werden, weil sie es nicht mehr sein wollen. Schon wenn sie es wollten, würden sie es kaum im Stande sein. Da heute zu Tage einmal die grade entgegengesetzte Sitte die Oberhand gewonnen hat, würde jede, die den Versuch wagte, den Widerspruch aller derer zu bekämpfen haben, mit denen sie in Berührung kommt, sind sie doch Alle gegen ein Beispiel verbündet, das die Einen nicht gegeben haben und die Andern nicht befolgen wollen.
    Gleichwol finden sich bisweilen noch junge Frauen von unverdorbener Natur, die in diesem Punkte der Herrschaft der Mode und dem Geschrei ihres

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