Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
Vom Netzwerk:
Berührungen, so daß der Verstand, der seine ganze Aufmerksamkeit auf diese sich unaufhörlich wiederholenden Eindrücke richtet, sich dadurch die Fähigkeit erwirbt, alle ihre Modificationen richtig zu beurtheilen. Dieser Unterschied macht sich namentlich beim Spielen musikalischer Instrumente fühlbar. Das harte und feste Aufdrücken beim Violoncello, beim Contrabasse und selbst noch bei der Violine macht zwar die Finger geschmeidiger, verhärtet aber dafür die Spitzen derselben. Die leisere Berührung der glatten Tasten des Klaviers macht sie dagegen gleichzeitig geschmeidiger und empfindlicher. In dieser Hinsicht muß man demnach dem Klavier den Vorzug einräumen.
    Da die Haut den ganzen Körper schützen muß, so ist es von Wichtigkeit, daß sie sich gegen die Einwirkungen der Luft abhärte und dem Wechsel derselben zu trotzen vermöge. Obgleich ich dies vollständig zugebe, möchte ich jedoch nicht, daß sich die Hand, weil man sie nöthigte, allzu knechtisch stets dieselben Arbeiten auszuführen, geradezu verhärtete, oder daß ihre fast hornartig gewordene Haut das feine Gefühl verlöre, welches uns die Körper, über die man mit der Hand streicht, erkennen läßt. Ist dies Gefühl abgestumpft, so kann es uns bisweilen je nach der Art, wie sich die Körper für uns anfühlen, bei Nacht manchen Schrecken einjagen.
    Weshalb soll mein Zögling gezwungen sein, stets Rindsleder unter seinen Füßen zu tragen? Was für ein Unglück sollte es wol sein, wenn ihm seine eigene Haut im Nothfalle als Schuhsohle dienen könnte? Es ist augenscheinlich, daß an diesem Theile die Zartheit der Haut nie einen Nutzen stiften, wol aber oft Schaden bereiten kann. Als die Genfer mitten im Winter um Mitternacht in ihrer Stadt vom Feinde geweckt wurden, langten sie eher nachihren Flinten, als nach ihren Schuhen. Hätte Keiner von ihnen barfuß gehen können, wer weiß, ob Genf dann nicht erobert worden wäre.

    Laßt uns den Menschen stets gegen unvorhergesehene Unfälle waffnen. In jeder Jahreszeit darf Emil mit bloßen Füßen im Zimmer, die Treppe herab und im Garten umher laufen. Statt darüber zu zürnen, werde ich seinem Beispiele folgen; ich werde lediglich dafür Sorge tragen, alles Glas aus dem Wege schaffen zu lassen. Die Arbeiten und Spiele, zu deren Ausführung wir uns der Hände bedienen müssen, werde ich ebenfalls bald besprechen. Uebrigens soll er seine Füße in allen Bewegungen üben, die der körperlichen Ausbildung förderlich sind und sich in allen Stellungen eine leichte und sichere Haltung zu erwerben suchen; er soll lernen weit und hoch springen, auf einen Baum klettern, über eine Mauer steigen und dabei stets das Gleichgewicht bewahren. Alle seine Bewegungen und Geberden sollen nach den Gesetzen der Schwerkraft schon lange zuvor geregelt sein, ehe die Statik sich einmischt, sie ihm zu erklären. Aus der Art, wie sein Fuß auftritt und wie sein Körper auf den Beinen ruht, muß er merken, ob seine Haltung gut oder schlecht ist. In einer sicheren Haltung liegt stets eine gewisse Anmuth, und in der festesten drückt sich auch stets die größte Feinheit aus. Wäre ich Tanzlehrer, so würde ich die äffischen Kunststücke des Marcel, [32] die nur für das Land, in welchem er sie zum Besten gibt, gut sein mögen, gewiß nicht machen lassen, sondern ich würde meinen Zögling, anstattihn mit Luftsprüngen zu beschäftigen, an den Fuß eines Felsens führen. Hier würde ich ihm zeigen, welche Stellung er nehmen, wie er Körper und Kopf halten, welche Bewegung er machen, in welcher Weise er sich bald des Fußes, bald der Hand bedienen müsse, um ohne Mühe einen schroffen, unebenen und rauhen Pfad verfolgen und beim Hinauf- und Hinabsteigen stufenweise vorwärts kommen zu können. Lieber will ich ihn mit einer Gemse als mit einem Ballettänzer wetteifern lassen.
    Während das Gefühl seine Thätigkeit auf die nächste Umgebung des Menschen concentrirt, dehnt das Gesicht die seinige nach außen hin aus; darin liegt eben die Ursache, daß wir durch dasselbe so oft getäuscht werden. Mit einem einzigen Blicke umfaßt der Mensch die Hälfte seines Gesichtskreises. Wie sollte er sich nun unter dieser Menge gleichzeitiger Eindrücke und der Urtheile, die sich auf diese gründen, in keinem einzigen irren? Deshalb können wir uns auf das Gesicht unter allen unsren Sinnen am wenigsten verlassen, gerade weil es am meisten in die Ferne gerichtet ist, und weil seine Thätigkeit, die der aller übrigen Sinne weit vorauseilt,

Weitere Kostenlose Bücher