Emil oder Ueber die Erziehung
mich; er besteht darauf und sagt endlich mit unwilliger Miene zu mir: »Nun gut! LegenSie ihn auf den Stein, stecken Sie die Rennbahn ab, und dann werden wir ja sehen!« – »Gut!« erwidere ich lächelnd, »kann denn aber ein Junker auch laufen? Du wirst dir dadurch nur größeren Appetit verschaffen, aber nichts erhalten, denselben zu stillen.« Durch meine spöttische Bemerkung nur noch mehr gereizt, strengt er sich auf das Aeußerste an und trägt den Preis um so leichter davon, da ich nur eine sehr kurze Bahn gewählt und den besten Läufer absichtlich ausgeschlossen hatte. Man wird begreifen, daß es mir, nachdem er einmal diesen ersten Schritt gethan hatte, leicht wurde, ihn in Athem zu erhalten. Bald fand er an dieser Uebung einen solchen Geschmack, daß er, ohne daß ich ihm eine besondere Begünstigung zu Theil werden ließ, fast sicher war, meine Straßenjungen im Laufen zu besiegen, wie lang auch immer die Bahn sein mochte.
Der Vortheil, den ich auf diese Weise erreicht hatte, war noch mit einem anderen verknüpft, den ich keineswegs vorausgesehen hatte. So lange er den Preis nur selten davontrug, aß er den Kuchen fast stets allein, wie es seine Mitbewerber machten. Als er sich jedoch an den Sieg gewöhnte, wurde er großmüthig und theilte oft mit den Besiegten. Dies war für mich eine wichtige moralische Beobachtung, und ich lernte hieraus das wahre Princip der Großmuth kennen.
Indem ich fortfuhr, mit ihm an verschiedenen Stellen die Punkte zu bestimmen, von denen gleichzeitig ausgelaufen werden sollte, machte ich, ohne daß er etwas merkte, die Entfernungen ungleich, so daß der Eine, welcher, um das Ziel zu erreichen, eine größere Strecke als der Andere zu durchlaufen hatte, augenscheinlich benachteiligt war. Obgleich ich indeß meinem Zögling die Wahl überließ, verstand er doch keinen Nutzen daraus zu ziehen. Ohne sich um die Entfernung zu kümmern, zog er regelmäßig den besten Weg vor, so daß ich, da seine Wahl leicht vorauszusehen war, es so ziemlich in meiner Hand hatte, ihn ganz nach meinem Belieben den Kuchen verlieren oder gewinnen zu lassen, und dieser Umstand war ebenfalls in mehr als einer Hinsicht nützlich. Da es indeß in meinerAbsicht lag, daß ihm die Ungleichheit auffiele, so bemühte ich mich, sie ihm recht bemerklich zu machen. Obgleich er nun im Allgemeinen bequem und träge war, so war er doch bei seinen Spielen so lebhaft und hegte so wenig Mißtrauen gegen mich, daß ich die größte Mühe hatte, es so einzurichten, daß er meinen Betrug merken mußte. Trotz seines Leichtsinnes erreichte ich doch endlich meinen Zweck. Nun machte er mir Vorwürfe. Ich versetzte jedoch: »Worüber beklagst du dich? Darf ich etwa bei einem Geschenke, welches ich machen will, nicht die Bedingungen bestimmen, unter welchen allein der Empfänger es erhält? Wer zwingt dich denn zur Theilnahme am Wettlaufe? Habe ich dir versprochen, gleiche Bahnen zu machen? Hast du nicht die Wahl? Suche dir also die kürzeste aus, Niemand wird dich daran hindern. Wie ist es nur möglich, dich gegen die Einsicht zu verschließen, daß ich dich dadurch gerade begünstige, und daß die Ungleichheit, über welche du Beschwerde führst, völlig zu deinem Vortheile ausschlägt, wenn du nur sie dir zu Nutzen zu machen verstehst.« Das war deutlich; er begriff es vollkommen; um indeß richtig zu wählen, mußte er sich die Sache genauer ansehen. Zuerst wollte er die Schritte zählen, allein mit den Schritten eines Kindes läßt sich nur langsam und noch dazu unrichtig messen. Außerdem hatte ich mir vorgenommen, die Zahl der täglichen Wettläufe zu vermehren, und sollte nun etwa dadurch das Vergnügen einen leidenschaftlichen Charakter annehmen, so mußte man die zum Laufen bestimmte Zeit ungern mit dem Abmessen der Rennbahnen verlieren. In ein so langsames Verfahren vermag sich die Lebhaftigkeit der Kindheit nur schwer zu finden. Er übte sich deshalb, besser zu sehen und eine Entfernung nach dem Augenmaße richtiger abzuschätzen. Seitdem hatte ich wenig Mühe, diese Neigung zu erhöhen und zu nähren. Einige Monate reichten hin, um durch fortwährende Versuche und durch stete Verbesserung der Irrthümer das Augenmaß bei ihm dergestalt auszubilden, daß, wenn ich einen Kuchen für ihn absichtlich auf einen etwas entfernten Gegenstand legte, sein Blick fast eben so sicher war als die Kette eines Feldmessers.
Da das Gesicht unter allen Sinnen derjenige ist, von dem man das Urtheil des Verstandes am wenigsten
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