Emil oder Ueber die Erziehung
zu schnell und zu ausgedehnt ist, um durch dieselben berichtigt werden zu können. Ja noch mehr, die perspektivischen Täuschungen sind uns sogar nothwendig, um den Raum beurtheilen und seine Theile unter einander vergleichen zu können. Würden sich die erblickten Gegenstände unserem Auge nicht so falsch darstellen, so vermöchten wir in der Entfernung nichts zu unterscheiden. Ohne die Abstufungen hinsichtlich der Größe und Beleuchtung könnten wir gar keine Entfernung abschätzen, oder würde es vielmehr gar keine für uns geben. Wenn uns von zwei gleichen Bäumen derjenige, welcher hundert Schritt von uns entfernt ist, eben so groß und deutlich wie der nur zehn Schritt entfernte erschiene, so würde die Vorstellung in uns erweckt werden, sie stünden unmittelbar neben einander. Wenn wir alle Dimensionen der Gegenstände in ihrer wirklichen Größe erblickten, so würden wir keinen Raum unterscheiden, und Alles müßte uns so erscheinen, als ob es sich unmittelbar auf unserem Auge befände.
Der Sinn des Gesichts hat zur Beurteilung der Größe der Gegenstände und ihrer Entfernung nur ein einziges Maß, nämlich den Winkel, welchen sie in unserem Auge bilden; und da dieser die einfache Wirkung einer zusammengesetzten Ursache ist, so läßt das Urtheil, welches er hervorruft, jede besondere Ursache unbestimmt oder wird nothwendiger Weise unrichtig. Denn wie soll ich durch das bloße Sehen unterscheiden, ob der Winkel, unter welchem ich einen Gegenstand kleiner als einen anderen erblicke, seine Entstehung der größeren Kleinheit oder der größeren Entfernung desselben zu verdanken hat?
Deshalb muß man hier einer der vorigen entgegengesetzten Methode folgen; anstatt den Eindruck des Gesichtes zu vereinfachen, muß man ihn verdoppeln, ihn beständig durch einen anderen berichtigen, muß das Organ des Gesichtes dem Organe des Gefühls unterwerfen und die Heftigkeit des ersteren durch den schwerfälligen und geregelten Gang des letzteren gleichsam zurückhalten. Lassen wir dieses Verfahren außer Acht, so bleiben unsere Abschätzungen vermittelst des Auges sehr ungenau. Es fehlt unserem Blicke an Genauigkeit und Sicherheit, die Höhen und Tiefen, Längen und Entfernungen richtig zu beurtheilen. Zum Beweise jedoch, daß nicht sowol der Sinn selbst als vielmehr seine Verwendung die Schuld trägt, braucht man nur auf die Erfahrung hinzuweisen, daß die Ingenieure, Feldmesser, Architekten, Maurer, Maler im Allgemeinen einen sichreren Blick als wir haben und die Größe des Raumes richtiger abschätzen. Weil ihnen ihr Geschäft eine Erfahrung gibt, die wir uns leider zu erwerben verschmähen, so hat für sie der Sehwinkel durch die ihn begleitenden Erscheinungen, welche in ihren Augen das Verhältniß der beiden Ursachen dieses Winkels genauer bestimmen, durchaus keine Zweideutigkeit mehr.
Alles, was dem Körper Bewegung verschafft, ohne ihn Zwang anzuthun, ist von den Kindern leicht zu erhalten. Es gibt tausenderlei Mittel, um ihnen für das Messen und die Distanzenschätzung Interesse einzuflößen. Hier steht ein sehr hoher Kirschbaum; wie sollen wir es anstellen,um Kirschen abzupflücken? Sollte wol jene Leiter an der Scheune groß genug sein? Da ist ein sehr breiter Bach; wie werden wir hinüber kommen? Sollte vielleicht eines der Breter auf dem Hofe von einem Ufer bis zum andern reichen? Wir haben Lust von unseren Fenstern aus im Schloßgraben zu angeln; wie viel Faden muß unsere Schnur lang sein? Ich möchte zwischen diesen beiden Bäumen eine Schaukel anbringen; wird ein Seil von zwei Klaftern ausreichen? Man erzählt mir, daß in dem anderen Hause unser Zimmer fünfundzwanzig Fuß im Quadrat enthalten wird; glaubst du, das es für uns passen werde? Wird es größer sein als unser jetziges? Wir haben großen Hunger; da sehen wir zwei Dörfer. Welches werden wir zuerst erreichen können, um daselbst unsern Hunger zu stillen? U.s.w.
Es war mir einmal die Aufgabe gestellt, ein träges und faules Kind im Laufen zu üben, welches von selbst weder zu dieser noch zu irgend einer andren Körperbewegung Neigung hatte, obgleich man es für den Soldatenstand bestimmt hatte. Es hatte sich einmal, ich weiß nicht aus welchem Grunde, die fixe Idee in ihm festgesetzt, daß ein Mensch seines Ranges nichts zu thun noch zu wissen brauchte, und daß ihm sein Adel Arme und Beine, so wie jede Art von Verdienst vertreten müßte. Um aus einem solchen Junker einen schnellfüßigen Achill zu machen, dazu würde selbst Chiron’s
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