Emil oder Ueber die Erziehung
reifen Alters, die sich mir fühlbar macht, führt mir die süße Zeit der Jugend wieder vor Augen. Indem ich altere, werde ich wieder ein Kind, und ich erinnere mich lieber dessen, was ich im zehnten, als was ich im dreißigsten Jahre gethan habe. Verzeiht mir deshalb, lieben Leser, wenn ich bisweilen meine Beispiele meinen eigenenErlebnissen entlehne; denn um dies Werk gut zu schreiben, muß ich mich ihm auch mit Lust und Liebe widmen können.
Ich war auf dem Lande bei einem reformirten Pfarrer, Namens M. Lambercier, in Pension. Zum Kameraden hatte ich einen Vetter, der reicher als ich war, und den man als Erben behandelte, während ich, der von dem Vater getrennt lebte, wie eine Art armer Waise betrachtet wurde. Mein großer Vetter Bernhard war durch und durch ein Feigling, besonders des Nachts. Ich machte mich über seine Furchtsamkeit so lange lustig, bis Herr Lambercier, der meiner fortwährenden Prahlereien überdrüssig wurde, sich vornahm, meinen Muth auf die Probe zu stellen. An einem sehr dunklen Herbstabende gab er mir den Kirchenschlüssel und befahl mir die Bibel zu holen, die er auf der Kanzel hatte liegen lassen. Um mich bei der Ehre zu fassen, fügte er einige Worte hinzu, die mich in die Unmöglichkeit versetzten, mich seinem Ansinnen zu entziehen.
Ich ging ohne Licht; hätte ich ein solches gehabt, würde es vielleicht noch schlimmer gewesen sein. Ich mußte über den Kirchhof und durchschritt denselben dreist, denn im Freien hatte ich noch nie des Nachts Furcht gehabt.
Als ich die Thüre öffnete, vernahm ich in dem hohen Kirchengewölbe einen Wiederhall, der mir wie Stimmen vorkam und meine römische Festigkeit schon bedenklich zu erschüttern begann. Nach Oeffnung der Thüre wollte ich nun eintreten. Kaum hatte ich jedoch einige Schritte gethan, so blieb ich stehen. Als ich die tiefe Finsterniß gewahrte, welche in diesem weiten Räume herrschte, wurde ich von einem so gewaltigen Schrecken erfaßt, daß sich mir die Haare sträubten. Ich ziehe mich zurück, springe hinaus und ergreife zitternd die Flucht. Auf dem Pfarrhofe finde ich einen kleinen Hund, Namens Sultan, dessen Liebkosungen mich wieder mit Muth erfüllen. Mich meiner Furcht schämend, kehre ich wieder um, während ich mich jedoch bemühe, Sultan, der mir nicht freiwillig folgen will, mitzuschleppen. Rasch gehe ich durch die Thür und trete in die Kirche ein. Kaum bin ich aber eingetreten, als mich von Neuem ein so heftiger Schrecken ergreift, daß ich völlig den Kopf verliere; und obgleich sich die Kanzel, wie ichsehr wohl weiß, auf der rechten Seite befindet, suche ich sie dennoch, da ich, ohne es zu merken, eine Wendung gemacht habe, lange Zeit auf der linken. Dabei verirre ich mich zwischen den Bänken und weiß schließlich nicht mehr ein und aus. Da ich weder die Kanzel noch die Thüre zu finden vermag, gerathe ich in eine unbeschreibliche Verwirrung. Endlich gewahre ich die Thüre, ich komme glücklich aus der Kirche heraus und entferne mich wie das erste Mal mit dem festen Entschlusse, dieselbe niemals, außer am hellen Tage, allein zu betreten.
Ich komme wieder bis an das Pfarrhaus. Im Begriffe einzutreten, höre ich, wie Herr Lambercier in ein lautes Gelächter ausbricht. Ueberzeugt, daß es mir gelte, und bestürzt, mich lächerlich gemacht zu haben, zögere ich, die Thüre zu öffnen. In dem kurzen Augenblicke, der darüber verfließt, vernehme ich, wie Fräulein Lambercier, die über mein langes Ausbleiben unruhig zu werden beginnt, der Magd befiehlt, die Laterne zu nehmen, und wie Herr Lambercier sich anschickt, mich abzuholen, von meinen beherzten Vetter begleitet, dem man nachher sicherlich alle Ehre des Wagestückes zuerkannt haben würde. Augenblicklich ist alle meine Furcht verschwunden; die Besorgniß allein erfüllt mich, auf meiner Flucht ertappt zu werden. Ich laufe, ich fliege fast nach der Kirche; ohne mich zu verirren, ohne lange umherzutappen, gelange ich bis an die Kanzel, steige hinauf, ergreife die Bibel und stürze die Treppe wieder herunter. Mit drei Sätzen befinde ich mich außerhalb der Kirche, deren Thüre ich sogar in der Eile zuzuschließen vergesse. Außer Athem trete ich in das Zimmer und lege die Bibel auf den Tisch, allerdings etwas verstört, aber doch mit freudig erregtem Herzen, daß ich der Hilfe, die man mir hatte bringen wollen, zuvorgekommen bin.
Man wird mich fragen, ob ich diese Anekdote aus meinem Leben etwa als nachahmenswerthes Vorbild oder als Beispiel jener Fröhlichkeit
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