Emil oder Ueber die Erziehung
erschrecken. Diese Methode ist sehr schlecht; sie bringt gerade die umgekehrte Wirkung hervor, und dient nur dazu, die Kinder noch furchtsamer zu machen. Weder die Vernunft noch die Gewohnheit sind im Stande, die Vorstellung einer vorhandenen Gefahr, deren Umfang und Art man nicht zu erkennen vermag, noch auch die Furcht vor überraschen Angriffen, die man schon so oft erfahren hat, völlig zu verscheuchen. Wie könnt ihr euch denn aber versichern, daß euer Zögling von dergleichen Unfällen befreit bleibe? Das beste Mittel, durch welches man diesem Uebelstande vorbauen kann, scheint mir in Folgendem zu bestehen. »Du befindest dich dann,« würde ich zu meinem Emil sagen, »im Falle einer berechtigten Nothwehr; denn der Angreifer gibt dir nicht Gelegenheit zu beurtheilen, ob er dir Böses zufügen oder dich nur in Schrecken setzen will, und da er sich von vorn herein seinen Vortheil ersehen hat, so kannst du nicht einmal in der Flucht dein Heil suchen. Packe also unerschrocken den, der dich des Nachts überfällt, gleich viel ob Mensch oder Thier; drücke und halte ihn mit Aufgebot aller deiner Kräfte; sträubt er sich, so schlage ohne geringste Schonung zu; und was er auch immer sagen oder thun möge, laß deinen Fang niemals los, bevor du genau weißt, mit wem du es zu thun hast. Sobald du Aufklärung erhalten hast, wirst du wahrscheinlich einsehen, daß nicht viel zu befürchten war.« Jedenfalls wird diese Behandlungsweise die Spaßvögel abschrecken, ihren Versuch zu erneuern.
Obgleich das Gefühl unter allen Sinnen derjenige ist, den wir in unausgesetzter Uebung erhalten, so bleiben doch, wie bereits erwähnt, seine Urtheile stets unvollkommener und oberflächlicher als die irgend eines anderen, weil wir bei seiner Anwendung beständig auch noch das Gesicht zu Hilfe ziehen. Da nun das Auge den Gegenstand eher als die Hand erreicht, so urtheilt der Verstand fast stets ohne die Ermittelung des Tastsinnes abzuwarten.Indeß sind dafür die Urtheile des letzteren gerade aus dem Grunde auch die sichersten, weil sie die beschränktesten sind; denn da sie sich nur so weit erstrecken, als unsere Hände reichen können, so berichtigen sie die voreiligen Schlüsse der andern Sinne, die nur aus der Ferne ihren Maßstab an Gegenstände legen, welche sie kaum gewahren, während der Tastsinn Alles, was er wahrnimmt, auch richtig wahrnimmt. Berücksichtigt ferner, daß wir, da wir der Thätigkeit der Nerven auch die Muskelkraft beliebig beigesellen können, durch eine gleichzeitige Empfindung mit der Beurteilung der Temperatur, der Größe und Gestalt auch noch die Beurtheilung des Gewichtes und der Dichtigkeit verbinden. Weil uns demnach der Tastsinn von allen Sinnen am richtigsten über den Eindruck belehrt, welchen fremde Körper auf unsren eigenen auszuüben vermögen, so ist er derjenige, der am häufigsten angewendet wird und uns am unmittelbarsten die zu unserer Erhaltung nothwendigen Kenntnisse vermittelt.
Wenn nun ein geübtes Gefühl den Gesichtssinn ergänzt, weshalb sollte es nicht auch bis zu einem gewissen Grade das Gehör ergänzen können, da doch die Töne in den klingenden Körpern Schwingungen hervorbringen, die sich durch das Gefühl wahrnehmen lassen. Legt man die Hand auf ein Violoncello, so kann man ohne Beihilfe des Auges oder Ohres, nur an der Art und Weise, wie das Holz vibrirt und schwingt, unterscheiden, ob der Ton, den es hervorbringt, tief oder hoch ist, ob er von der Quinte oder der Baßsaite herrührt. Man möge den Sinn nur auf diese Unterschiede einüben, und unser Empfindungsvermögen wird, wie ich nicht zweifle, mit der Zeit so weit ausgebildet werden können, daß wir vermittelst der Finger ganze Lieder vernehmen. Bewährt sich diese Annahme, so ist auch klar, daß man sich Tauben leicht durch Musik verständlich machen könnte, denn da die Töne und das Tempo nicht weniger regelmäßiger Zusammenstellungen fähig sind, als die Aussprache und die Stimme, so können dieselben eben so als Elemente der Sprache gebraucht werden.
Es gibt Uebungen, welche den Tastsinn abstumpfenund schwächen, dagegen auch andere, welche ihn schärfen und zarter und feiner machen. Da die ersteren zu der beständigen Einwirkung harter Körper noch starke Bewegung und viel Kraftaufwand hinzutreten lassen, so machen sie die Haut rauh und schwielig und berauben sie ihres natürlichen Empfindungsvermögens; letztere hingegen erregen dieses Empfindungsvermögen beständig durch leichte und sich oft erneuernde
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