Emil oder Ueber die Erziehung
Geschicklichkeit schwerlich hingereicht haben. Die Schwierigkeit war um so größer, da ich ihm durchaus keinen Befehl ertheilen wollte. Ich hatte auf Erziehungsmittel, als da sind Ermahnungen, Versprechen, Drohungen, Wetteifer, den Wunsch zu glänzen und ähnliche, zu denen ich allerdings berechtigt war, ein für alle Mal verzichtet. Wie konnte ich nun demselben, ohne ihm etwas zu sagen, Lust zum Laufen machen? Selbst zu laufen wäre, von der damit verbundenen Unannehmlichkeit ganz abgesehen, ein wenig Erfolg verheißendes Mittel gewesen. Außerdem kam es auch noch darauf an, diese Uebung zugleich als Lehrmittel zu benutzen, damit sich die Thätigkeit der Urteilskraft daran gewöhnte, mit der des Körpers Hand in Hand zu gehen. Ich will erzählen, wieich es angestellt habe; ich, d.h. derjenige, welcher in diesem Beispiele das Wort ergreift.
Wenn ich meinen nachmittäglichen Spaziergang mit ihm antrat, steckte ich bisweilen zwei Kuchen von der Sorte, welche er am liebsten aß; in die Tasche; auf dem Spaziergange [33] aß jeder von uns einen und recht zufrieden und vergnügt kehrten wir nach Hause zurück. Eines Tages bemerkte er, daß ich drei Kuchen bei mir hatte. Er hätte sechs essen können, ohne sich den Magen zu verderben; schnell verzehrte er den seinigen, um sich den dritten zu erbitten. »Nein,« sagte ich zu ihm, »ich hätte Lust ihn selbst zu essen, oder ihn mit dir zu theilen; aber ich verspreche mir noch mehr Vergnügen davon, einen Wettlauf zwischen diesen beiden kleinen Knaben hier um denselben anzusehen.« Ich rief sie, zeigte ihnen den Kuchen und erklärte ihnen, unter welcher Bedingung ihn einer von ihnen erhalten sollte. Das hieß ihren Wünschen entgegenkommen. Der Kuchen wurde auf einen großen Stein, welcher das Ziel vorstellte, gelegt; die Rennbahn wurde bestimmt; wir setzten uns. Auf ein gegebenes Zeichen rannten die Knaben ab. Der Sieger erbeutete den Kuchen und aß ihn vor den Augen der Zuschauer und des Besiegten ohne Gnade auf.
Dies Vergnügen war mehr werth als der Kuchen; aber Anfangs hatte es keinen durchschlagenden Erfolg und brachte keine Wirkung hervor. Allein deshalb verlor ich weder die Hoffnung noch ließ ich mich zu überstürzender Eile verführen. Erziehung der Kinder ist ein Geschäft, bei dem man verstehen muß, Zeit zu verlieren, um solche zu gewinnen. Wir setzten unsere Spaziergänge fort; oft nahm ich drei, mitunter auch vier Kuchen mit, und von Zeit zuZeit wurde davon einer, auch wol zwei für die Läufer bestimmt. War der Preis auch nicht groß, so waren dafür auch die, welche um denselben kämpften, nicht ehrgeizig; wer ihn indeß davontrug, wurde gelobt und gefeiert; Alles ging dabei sehr festlich zu. Um es nicht an Abwechselung fehlen zu lassen und das Interesse zu erhöhen, steckte ich eine längere Rennbahn ab und gestattete, daß mehr Bewerber an dem Rennen Theil nahmen. Kaum waren sie am Ablaufspunkt angetreten, so blieben dann alle Vorübergehenden stehen, um zuzuschauen. Der Beifall, den dieselben spendeten, ihre lauten Zurufe, ihr Händeklatschen feuerten die Läufer an. Zuweilen sah ich jetzt schon, wie mein Jünkerlein vor Aufregung zitterte, sich erhob und aufschrie, wenn einer im Begriff stand den anderen einzuholen oder gar hinter sich zu lassen; für ihn waren es olympische Spiele.
Indeß wendeten die Wettläufer zuweilen auch kleine Kriegslisten an; sie hielten sich gegenseitig fest, oder warfen einander zu Boden, oder schleuderten sich einander Steine in den Weg. Dies gab nur Veranlassung, sie zu trennen und von verschiedenen, jedoch vom Ziele stets gleich weit entfernten Punkten aus laufen zu lassen. Man wird sogleich den Grund dieser Vorsicht begreifen; denn ich muß diese wichtige Angelegenheit bis auf die kleinsten Nebenumstände erörtern.
Verdrießlich, vor seinen eigenen Augen regelmäßig Kuchen verzehren zu sehen, auf deren Genuß er selbst lüstern war, merkte der Herr Junker doch endlich, daß auch das Schnelllaufen Vortheil bringen könnte, und da er gewahrte, daß es ihm ebenfalls nicht an zwei Beinen fehlte, begann er sich heimlich im Laufen zu üben. Ich hütete mich natürlich, ihm zu erkennen zu geben, daß ich es bemerkte; aber ich gewann daraus schon die Ueberzeugung, daß meine Kriegslist gelungen war. Als er sich für hinreichend geübt hielt (und ich las seinen Entschluß in seinen Gedanken, noch ehe er sich desselben ganz klar geworden war), stellte er sich, als ob er mir den letzten Kuchen abquälen wollte. Ich weigere
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