Emil
gelesen hatte. Komplizierte Operation. Spendenaktion. Chefchirurg aus dem Ausland. Organspende. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass sie nicht mehr unter den Lebenden weilte, dass das Gebet bereits überflüssig war. Den Zettel hatte er schon vor Jahren gesehen, nur nicht wirklich gelesen. Man hatte ihn wohl grundlos neu angeklebt. Hatte man nicht entdeckt, dass es sich um eine fiktive Vereinigung gehandelt und es überhaupt kein solches Mädchen gegeben hatte? Oder war das jemand anders? Das Mädchen kam ihm in den Sinn, als er, wie fast täglich, am Meer stand. Das Wetter war winterlich, der Wind klappte den Schirm um und riss ihn stadteinwärts mit. Er fand Zuflucht unter dem Hochstand der Rettungsschwimmer, war bald völlig durchnässt. Er wollte beten, wusste jedoch nicht, wie, hatte Angst, laut zu sprechen, niemand hatte es ihn gelehrt. Dann versuchte er es leise, ohne dass man ihn hören konnte, denn es war niemand da, und er stammelte einige Sätze in den Regen hinein, Worte wie: Möge sie gesund werden, dachte, der Winterwind werde ihr helfen, sprach den Namen Gottes laut aus, mehr wusste er nicht, stellte sich ihn als weißen Schriftzug, J-H-W-H, quer über die grauen Meereswellen vor, dachte, der salzige Meereswind wird das Mädchen finden, Salz reinigt die Wunden. Amen.
Als er am Tag darauf wieder halbnass vom Meer heimkam, war der Zettel unter einer neuen Traueranzeige verschwunden. Er versuchte, sich an den Namen des kranken Mädchens zu erinnern, aber es wollte ihm nicht gelingen.
Emil
Zwei Monate später kam Emil aus der Schule, eine Zeichnung zum Thema ›Mein Körper und ich‹ in seiner Zeichenmappe. Darauf war der Körper eines Kindes und in seinem Innern ein noch kleinerer Körper (wie auch eine grüne Sonne und ein schwarzer, in der Luft schwimmender Fisch). Joel dachte: Das ist nur ein Aufdruck auf dem T-Shirt, das der Junge auf der Zeichnung anhat. Joel dachte: Irrtum, zuerst hat er den kleinen gezeichnet und ihn dann rundherum vergrößert. Joel dachte: Ein Klassenkamerad hat das dazugezeichnet. Das Kind drinnen ist ja ganz anders als das außen. Joel dachte: Unsinn. Erst viele Jahre später, nachdem das Blatt aus der Mappe, in denen er Emils Zeichnungen aufbewahrte, verschwunden war, verstand er. Dass sie es war. Aus ihm herausgeschnitten. Die Figur innerhalb des Körpers hatte weder Augen noch Gesicht. Joel konnte sich gut an sie erinnern. Eine Hand zu kurz. Der Kopf schief, eine Art Sechseck. Dann vergaß er die Sache. Erst einige Tage später, als er dabei war, sich vor dem konkaven Spiegel zu rasieren, begriff er, dass es auch er war. Die Klinge glitt über sein Kinn, säbelte die Bartstoppeln ab. Er sieht mich an und sieht sie. Ich bin nur ein überflüssiges Viertel. Das ist alles. Die Erinnerung an etwas, das es nicht gibt. Und nicht größer ist als das Wenige, das ist. Ich bin das Wenige, das es gibt. Alle Übel hat er von ihnen bekommen. Und von mir? Nichts.
Er suchte in der Mappe nach der Zeichnung, um sie zu vernichten, konnte sie aber nirgends finden.
Joel – Emil
Er stand auf, setzte sich hastig die Brille auf und rannte unrasiert zur Schule, fragte die Kinder im Schulhof nach Emil, Kennt ihr Emil, und ein Mädchen sagte, Das hängt davon ab, Emil Cohen, Emil Ben-Naftali oder Emil Sissu, und beim letzten hakte Joel ein, Das ist er, Sissu, Sissu, und fragte, Ist er heute in die Schule gekommen? Das Mädchen sagte, Hmm … ich glaube nicht, ich habe ihn heute überhaupt nicht gesehen. Und Joels Herz pumpte Blut und Schweiß, und ein entsetzlicher Druck breitete sich in seiner Brust aus, und er fragte sie, Bist du in seiner Klasse? Und sie sagte, Ich sitze neben ihm, und Joel begann zu zittern und zu beben, klammerte sich an den Gitterzaun, und das Mädchen begann zu lachen, weil sie meinte, er spiele Theater, konnte sich vor Lachen kaum halten und trällerte fröhlich: Ich hab Sie auf den Arm genommen, ich hab Sie auf den Arm genommen, er ist da, da ist er, neben dem Wasserspender. Schauen Sie mal.
Der Wasserspender war nicht weit. Das kalte Wasser in den Rohren eingeschlossen. Spatzen tranken aus dem winzigen Tümpel und spreizten ihr Gefieder. Eine Sekunde entfernt. Emil hob die Augen und begriff mit einem Schlag.
Die Schulglocke läutete, die Pause war zu Ende, Tauben flogen auf. Die Kinder strömten in die höher gelegenen Klassen. Emil schwamm gegen den Strom der Kinder an. Joel wollte ihm sagen: Nicht weinen, nicht weinen. Sie ist nicht wirklich deine Mutter. Denn
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