Emil
Joel die gesamte Anzahlung zurückbekam, doch eine Entschädigung für Lea erhielt er nicht. Es wurde ihr Fahrlässigkeit angelastet. Nicht nur ein rotes Warnschild habe es dort gegeben, sondern auch einen Klebestreifen quer über der Tür. Die Verstorbene hat den Klebestreifen gelöst und unter Missachtung der Vorschriften die Eisentür geöffnet. Gemäß Schadensrecht trägt daher mein Mandant keinerlei unmittelbare oder mittelbare Verantwortung für den Schaden, den der Kläger bzw. der Erbe der Verstorbenen erlitten hat.
Als sein Anwalt verlegen auf ihn zu trat, sagte ihm Joel: Macht nichts. Auch ohne Entschädigung ist es in Ordnung. Besser ohne Entschädigung.
Sie blieben in der Smuts-Straße wohnen. Erst nach einem Jahr nahm Joel ihn zu dem Gebäude mit, das inzwischen fertiggestellt und bewohnt war. Autos parkten davor, in der frühen Morgenstunde war die Straße leer. Sie standen vor den dunklen Briefkästen und sahen sich die Namen der Bewohner an. Hier, Tür 16, hier hätten wir wohnen sollen. Emils Augen glitten über die Namen der Bewohner. Eine Stimme ertönte aus dem Briefkasten: Suchen Sie jemanden? Sie standen vor der Aufzugtür. Die roten Zahlen kletterten hinab. 8, 7, 6. Bei 1 lief Emil los, die Treppe hinauf, und Joel hinter ihm her.
Joel litt an Schlafstörungen. Emil lag neben ihm auf dem Bett. Auf dem Rücken. Die Augen geschlossen. Er war fast zehn.
Als man ihn am nächsten Morgen in der Schule fragte, warum er so müde sei, entgegnete er, er habe nicht genug geschlafen, denn sein Vater habe sich die ganze Nacht in seinem Grab gewälzt.
Joel sah, wie nacheinander die roten Zahlen erschienen. Der Aufzug war neu, die bewusste Kabine war noch am selben Tag weggeschafft worden. Doch der Schacht war ihr Schacht. Ein Hochgrab, das war das Wort, mit dem er daran dachte. Er wollte Emil sagen: Hier im Schacht ist das Grab, doch er schwieg aus Angst, mit harten Worten Unheil anzurichten. Sie fuhren hinunter, und nachdem sie ohne auszusteigen ein wenig gewartet hatten, wieder hinauf. Fuhren dann wieder hinunter, hinauf, hinunter, wie Emil es noch Dutzende Male danach, in jenem und in anderen Gebäuden, allein tun würde. Auch als Joel die Lüftung eingeschaltet hatte, blieb es heiß wie in einem Backofen. Nach einigen Minuten klopften die Nachbarn mit dem Postschlüssel zornig an die Tür. Joel und Emil beachteten das Klopfen nicht. Hinauf und hinunter fuhren sie, die Tür öffnete sich nicht, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 und wieder zurück. Sie gaben sich ganz dem immer wiederkehrenden Rhythmus hin. Neue Nachbarn kamen, neue Schlüssel klopften an die Metalltür. Bis sie es schließlich bleiben ließen und bei der Aufzugsfirma anriefen. Es kam ein Techniker, der den Aufzug manuell ins oberste Stockwerk hinaufholte. Der Aufzug spinnt, dachte der Techniker, aber als sich die Tür öffnete, sah er die beiden im Profil, zunächst ihr Bild im großen Spiegel und dann sie selbst eng aneinander gepresst. Der Junge zitterte, und dem Mann mit dem gelben Plastikhelm floss ein Rinnsal Blut aus der Nase.
Ein andermal gingen sie auf der Straße entlang, und Emil begann zu laufen. Denn am unteren Ende der Straße hatte er sie erblickt. Dann gingen beide die Straße zurück, hinauf, jeder in der Hand einen Becher Wasser, den man ihnen gereicht hatte. Das Wasser schwappte in den beiden Bechern hin und her. Auf und ab. Emil musterte seinen Vater. Wie er den Becher hielt. Wie er ging. Versuchte seinen Gang nachzuahmen. Und wie er den Becher hielt. Den Plastikbecher zu den Lippen führte. Joel merkte nicht, dass er nachgeahmt wurde.
Da war eine brennende Kerze. Jemand legte einen erloschenen Docht an, der sich erstaunlicherweise gleich entzündete. Trotz der Feuchtigkeit. Obwohl er schon schwarz war. Obwohl er schon sehr kurz war. Doch niemand schenkte dem Aufmerksamkeit. Niemand bemerkte es. Man klatschte, man sang ein Geburtstagslied. Jemand zog ein Akkordeon hervor, und die Kinder schrieben Glückwünsche mit den Buchstaben, die sie gerade gelernt hatten.
Einmal träumte Emil, er blicke auf eine Digitaluhr, die 5:17 Uhr zeigte, und dann sprang das Display direkt auf 5:19 Uhr, und wegen dieses Traums ging er den ganzen folgenden Tag niedergeschlagen und nervös umher. Er träumte auch, er wolle ein Hemd mit Knöpfen anprobieren, das sich als zu eng erwies. Auch träumte er, jemand führe ihn aus einer Londoner Wohnung hinaus in den Hinterhof, da standen der Buckingham-Palast und die Nationalgalerie, und Freude
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