Emil
immer wieder hatte er versucht, sich damit zu trösten, dass das Unglück nur sein eigenes war, dass Lea nicht … Lea nicht … es gelang ihm nicht, den Satz zu vollenden. Denn eigentlich doch. Ja. Ganz und gar. Jetzt aber wollte er auf jeden Fall dem Kind sagen, sie war nur deine Adoptivmutter, jetzt gehen wir deine Mutter suchen, die dich zur Welt gebracht hat, und alles wird wieder gut, nicht wahr?
Er konnte es aber nicht aussprechen. Denn wenn
sie
es nicht war, dann auch er nicht. Und wenn auch ich nicht, dann ist das Kind ganz allein. Diese Gedanken verwirrten sich in ihm, nahmen ihn völlig in Besitz. An nichts anderes dachte er. Denn dass Emil sowohl weggegeben worden als auch nun Waise war, ja, das brachte ihn auf. Das ist nicht gerecht, wollte er schreien, es dem Kind sagen, doch nein. Du darfst das nicht sagen. Das wird ihn noch mehr durcheinander bringen. Sag es ihm und aus.
Es gelang ihm nicht, aus dem Sand aufzustehen.
Mama … sagte er. Löste die Umarmung ein wenig. Hör mal, ich … es ist was passiert …
– Sie ist schon auf dem Friedhof.
– Nein, nein …
Sie machten sich auf den Weg, das Schulgelände zu verlassen. Man öffnete ihnen das Seitentor. Aus einiger Entfernung ertönte die Stimme des Tora-Lehrers, der ihnen mit seinem Essenspaket und der Bibel in der Hand nachsetzte. Joel erklärte mit leiser Stimme, er nehme das Kind mit. Und man möge es bitte der Schulleiterin mitteilen. Der Lehrer ergriff Joels Hemd, und Emil sah seine weißen, gepflegten Finger den Stoff zum Zeichen der Trauer einreißen. Mit beiden Händen schob Joel den Lehrer von sich, Nein, genug, lassen Sie, lassen Sie. Genug …
Hinter seinem Rücken versuchte Emil, sein eigenes Hemd zu zerreißen. Doch seine Kraft reichte nicht aus.
So schritten Vater und Sohn die Straße hinauf, die von der Schule zu ihrer Wohnung führte. Vor dem Fußgängerübergang blieben sie stehen. Die vorbeifahrenden Autos hielten nicht an, um sie über die Straße zu lassen. Es war eine sehr befahrene Straße.
Er dachte daran, sich gemeinsam vor die vorbeibrausenden Räder zu werfen und sich überfahren zu lassen. Auf dem Boulevard setzten sie sich auf eine Bank. Joel sagte: Offenbar ist ein Unfall passiert in dem neuen Haus, in das wir übersiedeln sollten, erinnerst du dich? Mama ist hingegangen, um sich anzuschauen, wie weit der Bau ist. Joel rührte sich nicht, als er seine Zähne ihn in grub. Alle sahen es und sagten kein Wort.
Danach schleppten sie sich im Schatten der Bäume dahin, und Joel trug Emil die Treppe hoch, wie er es getan hatte, als er ihn vom Säuglingsheim nach Hause gebracht hatte, und noch viele Male danach. Da er anscheinend noch im Treppenhaus eingeschlafen war, legte Joel ihn auf ihrer Seite nieder, setzte sich neben ihm auf den Fußboden, stand nochmals auf, um das Telefon aus dem Stecker zu ziehen, damit niemand ihn aufwecken könne, setzte sich wieder und benetzte die Wunde mit Speichel. Er wusste nicht, was er tun sollte, sein Kopf glühte, er hatte nicht die geringste Ahnung, wie es weitergehen sollte, wie er von nun an sein Leben leben sollte, er war doch erst vierzig, wie er auch nur den jetzigen Tag überstehen sollte. Wer würde für das Kind kochen, wie würde er morgen der Arbeit fernbleiben können. Ein absurder Gedanke durchfuhr ihn
: Man wird dir nicht glauben
, sie werden glauben, dass du dich drückst, und dich entlassen, gleich wird man dich vom Büro aus suchen, unter keinen Umständen darfst du die Arbeit verlieren, und dann plötzlich dieser Zorn, der ihn in den kommenden Wochen noch oft überkommen sollte, Wie dumm, in einem Rohbau in den Aufzug zu steigen, du dumme Kuh, du Blödkopf, und dann der Zorn über sich selbst, dass er sie so beschuldigte, Warum hast du nichts gesagt, warum hast du sie nicht gewarnt, und der Wunsch, alles zu zertrümmern, alle Fensterscheiben einzuschlagen, und wieder heftiger Schmerz, und wieder Tränen, und wieder Schmerz, Wie konntest du mich mit einem Sechsjährigen alleinlassen, und sofort wieder das Gefühl der Bedrängnis, Ich werde auf dich aufpassen, mach dir keine Sorgen, und einen Augenblick lang schlich sich in die Trauer eine Art Stimme, die wie aus der Zukunft zu ihm sprach: Es wird vorbeigehen, es geht schon vorbei, und wieder schluchzte er, brüllte die Stimme an, Wie soll es vorbeigehen, nein, nein, es wird immer, immer so bleiben.
Gedankenfetzen jagten kreuz und quer durch seinen Kopf, Dinge, die damit zusammenhingen und dann wieder nicht, ein
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