Emilia - Herzbeben
Bilder durch den Kopf! Und Gefühle! So intensive Gefühle. Sie schnappte nach Luft und riss die Augen auf. Sie sah Recedere, ihren Schöpfer, in Gedanken direkt vor sich knien! Sein schönes Gesicht war schmerzverzerrt! Malina fiel sofort ebenfalls auf die Knie und brach in Tränen aus. Vor ihm stand Angor, sein Bruder. Und sein Mörder. Er war so voller Wut und Hass. Sie spürte Enttäuschung, Verrat und tiefe Verletztheit. Von Rece ging nur Traurigkeit aus. Tiefe Traurigkeit. Er war seiner Existenz überdrüssig geworden. Ohne die Frau, die er liebte,wollte er nicht mehr leben.
Malina starrte fassungslos ins Nichts. Er hatte sie so sehr geliebt? Das dunkelste Wesen der Welt hatte … geliebt? Im nächsten Moment zerstörte Angor ihn. Und Rece wehrte sich nicht einmal. Er ließ es geschehen, ertrug die Schmerzen und verging wie ein Stern, der verglühte. Und er wollte es so. Angor hätte es niemals geschafft, wenn Rece sich nur einen Moment lang gewehrt hätte. Er war ihm immer überlegen gewesen. Angor hatte das zwar niemals wahrhaben wollen, aber es war eine Tatsache, die ihm ebenso klar gewesen sein musste, wie jedem anderen. Rece hatte sterben wollen .
Malina sah unter Schmerzen und Tränen zu, wie ihr Schöpfer vernichtet wurde und blickte ihm dabei in die pechschwarzen Augen, aus denen Tränen flossen. Nie, niemals hätte sie sich ein solches Bild gewagt vorzustellen. Das Bild eines weinenden Gottes. Jede Träne, die über sein makelloses Gesicht lief, war ein monumentaler, erschütternder Schmerz, der nicht nur in ihrem Körper aufloderte, sondern in ihrem ganzen Universum. Einen Gott weinen zu sehen war wie der Untergang der Welt. Der Untergang des Universums. Niemand sollte seinen Schöpfer jemals weinen sehen. Dieser Schmerz durchbrach jede Grenze. Er war unerträglich.
Bevor es zu Ende ging, sprach Angor noch einige Worte mit einem wütenden Knurren in der Stimme, woraufhin Rece den Kopf senkte und sich mit einem erlösten Lächeln im Gesicht auflöste wie ein Schatten, den man in Licht getaucht hatte. Er sagte: »Dafür habe ich dich nicht erschaffen.«
Mit Reces Körper löste sich auch die Brücke auf und zerfiel in ihre Einzelteile. Malina spürte plötzlich das kalte Wasser des Flusses, als knie sie mitten drin. Mit verschwommenem Blick sah sie auf und spürte auf einmal auch den Nebel auf den Wiesen. Sie spürte ihn so deutlich, als bestünde sie aus diesem Nebel. Und aus der Wiese. Aus der Luft. Sie fühlte sich, als würde sie hindurch schweben, wie eine Seele und alles um sich herum wahrnehmen. Dann sah sie irritiert zu Angor auf, der seinen Kopf in den Nacken schmiss, seine Arme ausbreitete und seine Kraft hinaus brüllte. Sein Körper bebte, denn er absorbierte Reces Seele und seine ganzeKraft. Sein Wesen, seine Existenz. Seine Dunkelheit. Genauso hieß es auch in den Geschichten. Seit Reces Tod war Angors Kraft so sehr angestiegen, dass er sie kaum noch in seinem Körper halten konnte. Er war mächtiger geworden. Dunkler. Und größer denn je. Sein blondes Haar wehte im Wind und seine Schatten scharten sich um ihn und ergötzten sich an seiner Macht.
Doch irgendetwas war auf der Wiese … Malina ließ ihren Blick noch einmal hinüber schweifen und glaubte zu spüren, wie etwas die Halme streifte. Etwas, das davon schwebte wie ein unsichtbarer Schatten. Heimlich und still. Malinas Herz bebte plötzlich in ihrer Brust. So laut, dass sie es in ihrem Kopf schlagen hörte. Ein Gedanke wagte sich in ihr vor. Ein Gedanke, der sie erschütterte und gleichzeitig in freudiges Taumeln versetzte. Was, wenn ein Teil von Rece überlebt hatte?
In diesem Moment klingelte ihr Handy und ließ sie vor Schreck zusammenfahren. Sie stand auf, holte tief Luft und ging dann lässig wie immer ran. »Was, Kell?«
»Ein Auftrag. Hier in der Nähe. Wo bist du?«
Sie wischte sich schnell die Tränen aus dem Gesicht und sagte: »Bin sofort da.« Und dann lief sie los. Die kühle Morgenluft trug ihre Gedanken fort. Sie atmete sie tief ein und versuchte ihr bebendes und brennendes Herz damit zu kühlen. Doch als sie wenige Sekunden später bei Kell vor dem Hotel ankam, bebte es immer noch. Sie versuchte kühl zu wirken, wie immer, doch Kell kannte sie zu gut. Er musterte sie kurz, bevor er mit ihr in den Wagen stieg und fragte sie, während er losfuhr: »Was ist passiert?«
Malina schnaubte nur genervt und ging nicht auf seine Frage ein. Stattdessen fragte sie ihn nach dem Auftrag.
»Sie vermuten eine Gruppe in
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