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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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war irgendwie neidisch. Da sie kein Anhänger von John McCain war, blieb ihr eigentlich nichts anderes übrig: Wie sie jedem sagte, der es hören wollte, überlegte sie erstmals in ihrem Erwachsenenleben, gar nicht zu wählen.
    «Wenn du Obama oder Hillary wählen müsstest», fragte Kenneth, «für wen würdest du dich entscheiden?»
    «Für keinen von beiden.»
    «Aber wenn du müsstest. Weil dich jemand mit vorgehaltener Pistole dazu zwingt.»
    «Ich wusste gar nicht, dass es so eine Wahl ist.»
    «So eine Wahl ist es jedes Mal.»
    «Mrs. Clinton würde ich nicht mal wählen, wenn man mich mit einer Pistole bedroht. Was sagst du dazu?»
    «Ich bin etwas überrascht.»
    «Sie hatte bereits ihre Chance, und falls du dich erinnerst - ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll -, sagen wir, es war unschön.»
    «Verglichen mit den letzten acht Jahren?»
    Da Kenneth wusste, dass sie es bereute, würde er sie immer wieder daran erinnern, nicht nur ein-, sondern zweimal für George W. Bush gestimmt zu haben. Nicht dass es im großen Weltenplan von Bedeutung gewesen wäre. Sie hatte auch zweimal für den ersten George Bush und für Ronald Reagan und Eisenhower gestimmt, und dreimal für Richard Nixon. Sie hatte für Goldwater und Gerald Ford und Bob Dole gestimmt, obwohl sie in allen drei Fällen wusste, dass es wahrscheinlich eine hoffnungslose Angelegenheit war.
    Sie hatte ihre Überzeugungen redlich erworben. Wie die meisten Leute in Elk County waren ihre Eltern Republikaner gewesen und hatten zu ihrer Erleichterung festgestellt, dass Henrys Familie im Pittsburgher Zweig der Partei aktiv war - denn die Stadt war damals wie viele andere für ihren starken demokratischen Parteiapparat berüchtigt gewesen. Da Emilys Vorfahren für alles, was sie besaßen, hatten hart arbeiten müssen, schätzte sie vor allem Eigenständigkeit. Im Lauf der Jahre wurden ihre Ansichten zu Sparsamkeit und Verantwortung immer wieder von der Grand Old Party bestätigt, und zwar nur von der Grand Old Party, deshalb war sie den Republikanern treu geblieben. Niemand konnte ihr vorwerfen, sie habe ihr Fähnchen in den Wind gehängt. Auch wenn Vietnam offenbar ein Fehler und Mr. Nixon ein schwarzes Schaf gewesen war, waren die Grundsätze, denen sie sich verschrieben hatte, heilig. Das glaubte sie immer noch, doch das andauernde Debakel der letzten acht Jahre hatte sie und viele ihrer Freunde im Club davon überzeugt, dass Mr. Bush und seine Spießgesellen die konservativen Grundsätze verraten hatten, dass die Partei es zugelassen hatte und Gemäßigte wie sie, die einmal die Basis gebildet hatten, sozusagen ins Exil geschickt worden waren. Als Befürworterin von Solidarität war Emily eher verblüfft als wütend darüber, ihrem Schicksal überlassen worden zu sein. Weshalb stießen sie die alte Garde so vor den Kopf?
    Kenneth, der sich als Jugendlicher nach der Schule im Fernsehen den Watergate-Prozess angeschaut hatte, begrüßte ihre neue Ernüchterung. Ihre Diskussionen waren jetzt nicht mehr so hitzig, als hätten sie eine gemeinsame Basis gefunden. Wie Emily glaubte er nicht, dass Hillary gewinnen würde. Er glaubte auch nicht, dass ihre Anhänger zu McCain überlaufen würden. In Kalifornien und New York war bereits alles entschieden, genau wie in Texas und im Westen. Es würde darauf hinauslaufen, ob sich Obama in Florida und Ohio durchsetzen konnte - denselben Staaten, in denen die erfahreneren Gore und Kerry gescheitert waren. So empört sie auch über Mr. Bush sein mochte, erinnerte sie Kenneth doch gern daran, dass man auf dem Lande zwangsläufig konservativ war und es dort um die Familie, den Glauben und die Bezahlung der Rechnungen ging. Wie immer endete ihr Wortgefecht unentschieden, doch jetzt schlossen sie ihre Diskussionen mit der skeptischen Hoffnung ab, dass sich die Lage bessern musste, denn schlimmer konnte sie nicht mehr werden.
    Margaret fand, dass Dick Cheney ein Kriegsverbrecher und jeder, der für McCain stimmte, ein Idiot war - sie wäre bestimmt überrascht gewesen, wenn sie gewusst hätte, wie ähnlich Emily dachte, aber Margaret vertrat diese Ansichten mit so unbekümmerter Selbstgerechtigkeit, dass Emily sie nicht ernst nehmen konnte. Margaret sagte, Obama sollte gewinnen, doch wahrscheinlich werde es nicht dazu kommen, weil große Teile der Bevölkerung rassistisch seien.
    Als Jugendliche hatte sie einen Hang zu theatralischer Übertreibung gehabt und in der Hoffnung, Henry provozieren zu können, das gemeinsame

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