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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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es die ganze Woche. Sie hatte immer mit Louise verglichen, wie weit sie schon waren, und hatte es bedauert oder kritisiert, wenn der Redakteur zu viel von ihnen verlangte. Wenn sie das Wortspiel begriff, das ein Rätsel entschlüsselte, fragte sie sich auch jetzt noch, ob Louise es herausbekommen hätte, obwohl Louise natürlich keine Zeitung mehr geliefert bekommen konnte.
    Die Nachrichten waren schon alt. In Bagdad war in der Nähe einer Moschee eine Bombe explodiert. Auf einer Party in Garfield war ein Jugendlicher niedergestochen worden. Alcoa - wovon erst Henry und jetzt sie ziemlich viele Aktien besaß - baute Arbeitsplätze ab. Die Steelers spielten gegen Cleveland. Morgen sollte es schneien, aber nicht besonders stark. Wie immer ging sie die Todesanzeigen durch und war erleichtert, niemanden zu entdecken, den sie kannte. Sie achtete auf die Leute, die ungefähr so alt wie sie oder etwas jünger waren, vermied es jedoch, über sie nachzugrübeln. Sie wollte keine dieser vom Tod besessenen alten Frauen sein, die ihn in jedem Ticken der Uhr und jedem Knarren der Dielen hörten, als würde er wie ein Einbrecher im Haus herumschleichen. Es gab keinen Grund, die Dinge zu überstürzen. Sie würde noch früh genug sterben.
    Sie legte die Post-Gazette weg, las in der Times weiter und goss sich noch eine Tasse Tee ein. Rufus versuchte, sie für einen Spaziergang zu gewinnen, stand dann aber bloß da wie eine Kuh und schnupperte in der Luft. Dennoch gab sie ihm einen Hundekuchen. Sie spielte die CD noch mal ab, und als sie die Beine in eine Decke gehüllt und ihren Glücksstift ergriffen hatte, ließ sie sie ein drittes Mal laufen.
    Der Anfang war immer schwer, aber auch befriedigend, denn sie trug die einfachen Gemeinplätze und Schlagwörter ein, bevor sie die spitzfindigeren Fragen entschlüsselte. Sie freute sich, dass ihr die Namen von Dichtern, Flüssen und Filmen immer noch einfielen, und war so geschickt, die verschiedenen Möglichkeiten im Kopf zu behalten, bis die richtige Kombination passte. «Nigerias Nachbar» war GABUN. «Jemand, der Steakhäuser scheut», war ein VEGANER.
    «», sagte sie zu Rufus. «Wonach klingt das?»
    Als die Standuhr eins schlug, machte sie eine Pause, um zu Mittag zu essen - Lipton-Hühnernudelsuppe und ein Truthahnsandwich. Sie legte Schütz’ Weihnachtshistorie auf, aß in der Frühstücksecke und blickte in den Garten hinaus. Der Wetteransager hatte sich um einen Tag geirrt. Schneefahnen schwebten wie Asche herab. In den Vogelhäuschen befand sich kaum noch Futter, und als sie von ihrem Sandwich genug hatte, nahm sie die Krusten mit nach draußen und verstreute sie auf dem Fenstersims, setzte sich dann mit einer Tasse Kaffee und ein paar Vanillekeksen hin und beobachtete, wie sich ein Meisenpaar daran gütlich tat.
    Dass Margaret nicht angerufen hatte, ließ ihr keine Ruhe - eigentlich ging es eher darum, dass sie sich nicht an Thanksgiving gemeldet hatte -, doch Emily widerstand dem Drang, ihre Nummer zu wählen. Margaret brauchte ihr bloß mitzuteilen, dass sie die Flüge gebucht hatte. War das zu viel verlangt? Siehe, ich bin des Herrn Magd, jubilierte der Chor im Wohnzimmer, doch während sie mit dem Bodensatz ihrer Tasse da saß, in der Hand eine zerknüllte Serviette, überkam sie eine gewisse Trägheit. Der Tag war schon halb vorbei, und sie hatte noch nichts erledigt.
    Das Geschirr abzuspülen, in den Vogelhäuschen das Futter aufzufüllen oder die Hühnerbrust aus dem Gefrierschrank zu holen und auftauen zu lassen, zählte nicht. Damit zögerte sie bloß die langweilige Aufgabe hinaus, ihre Weihnachtskarten zu schreiben. Sie verwendete ein Foto, das Kenneth bei Sams Abschlussfeier an der Highschool von den Enkelkindern gemacht hatte, Sam in seiner Robe, die anderen drei lächelnd in Festtagskleidung. Es war Tradition, dass jedes Enkelkind die Gelegenheit erhielt, einmal im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Sam war der Letzte, der Jüngste von den vieren. Nächstes Jahr musste sie ein anderes Bild nehmen. Am Freitag war sie extra zum Postamt gefahren, um Feiertagsbriefmarken zu kaufen, deshalb gab es keine Ausrede, und dennoch streifte sie besorgt durchs Erdgeschoss, als hätte sie etwas vergessen.
    Alles, was sie brauchte, befand sich in ihrem Sekretär. Sie holte ihr Adressbuch und die Briefmarken, die Tüte mit den Karten und zwei wischfeste Markierstifte, die sie genau für diesen Zweck gekauft hatte, setzte sich an den Esszimmertisch und

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