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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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legte ihre Sachen ordentlich zurecht, damit sie wie am Fließband arbeiten konnte.
    Zuerst nahm sie sich die Karten an die Enkelkinder vor, fügte Alles Liebe, Grandma zu den gedruckten Grüßen hinzu und war sofort bestürzt über ihre Handschrift. Seit sie in der sechsten Klasse bei einem Schönschreibwettbewerb eine Gipsbüste von Shakespeare gewonnen hatte, rühmte sie sich ihrer Schreibschrift. Aber in den letzten paar Jahren war ihre Schrift unleserlich geworden, ihre Hand zittrig, als litte sie an einer Nervenkrankheit. Vielleicht lag es an diesem Tag, dessen morgendliche Verheißung unerfüllt blieb, doch sie betrachtete ihre schnörkeligen Buchstaben als einen weiteren Beweis dafür, dass sie zwangsläufig alles verlor, zumindest in dieser Welt.
    Ihr Adressbuch bestätigte das, die Seiten gleichermaßen von Lebenden und Toten bevölkert. Helen Alford war schon seit zehn Jahren tot, und doch konnte sich Emily noch an das schäbige Swarthmore-Sweatshirt erinnern, das Helen trug, wenn sie mit Bud und den Kindern sonntags im Park Touch Football spielte. George und Doris Ballard, die mit ihnen bei Auftritten des Symphonieorchesters immer eine Fahrgemeinschaft gebildet hatten. Conrad und Hilde Barr, die nach Roanoke gezogen waren. Ida Blair. Judy Burke. Jeder einzelne Name rief ihr laute Dinnerpartys und Gin Tonics auf sonnigen Veranden ins Gedächtnis, träge Samstagnachmittage im Schwimmclub, Kombis voll lärmender Jungen in Polyester-Baseballkluft. Die Versuchung bestand darin, der Zeit nachzutrauern, als sie noch jung, rührig und voller Leben waren. So sehr Emily all das auch vermisste, begriff sie doch, dass ihr jene Zeit - zumindest teilweise - deshalb so ausgefüllt vorkam, weil sie vorbei war, weil Emily ihr ein Denkmal setzte und sie alle der selbst gestellten Aufgabe, eine Familie zu gründen, gerecht geworden waren. Der Gedanke an Margaret genügte, um sie daran zu erinnern, dass sie nicht nur glückliche Zeiten erlebt hatten, sondern in Wahrheit vieles ein Kampf gewesen war, noch längst nicht vorbei, falls das überhaupt möglich war. Nein, wahrscheinlich nicht. Selbst nach Emilys Tod würde Margaret noch mit ihr kämpfen, so wie Emily manchmal noch mit ihrer eigenen Mutter rang, schuldbewusst, aber weil sie sich ewig ungerecht behandelt fühlte, auch selbstgerecht. Obwohl alles allmählich verblasste, war nichts jemals abgeschlossen.
    Aufgrund der Namensliste vom letzten Jahr hatte sie hundert Karten und Umschläge bestellt. Bisher hatte sie zwölf geschrieben. Im Wohnzimmer warteten ihr Rätsel, die Buchbesprechungen und der Kulturteil. Sie konnte Bachs h-Moll-Messe auflegen, die Decke über sich ziehen und tief in Henrys Sessel versinken. Es schien ihr verlockend einzuschlafen, während sich draußen der Himmel rot färbte und dann langsam dunkel wurde. Schließlich war Sonntag.
    Dieser Gedanke war genauso kurzlebig und untauglich wie die Versuchung, sich ihrer Wehmut zu überlassen. Wenn sie jetzt aufhörte, würden die Karten morgen auf sie warten und ihr zwei Tage statt einen verderben. Es war ihre Aufgabe. In der Nacht würden sich keine Heinzelmännchen hereinschleichen und die ganze Arbeit für sie erledigen. Das Schreiben der Karten würde mehrere Stunden dauern, und wahrscheinlich würden sie schrecklich aussehen, aber mal ehrlich, was hatte sie sonst schon zu tun? Sie nahm einen Umschlag vom Stapel, suchte in ihrem Adressbuch die nächste noch lebende Person heraus und schrieb weiter, wobei sie so fest aufdrückte, dass die Wörter lesbar sein würden.
     
    Gleichgesinnte
     
    Jeden zweiten Mittwoch kam Betty vorbei, um Emily dabei zu helfen, das Haus einigermaßen in Schuss zu halten. Egal, wie pingelig Emily war, sie konnte sich nicht mehr hinknien und die Wannen schrubben, die Duschvorhänge waschen oder die Fußböden gründlich wischen. Jahrelang hatte Arlene ein Loblied auf Betty gesungen, und obschon Emily den Gedanken, eine Haushaltshilfe einzustellen, als Zeichen von Faulheit und als Privileg betrachtet hatte - in den sechziger Jahren hatten die meisten ihrer Freundinnen Putzfrauen gehabt -, konnte sie sich inzwischen gar nicht mehr vorstellen, wie sie je ohne Betty ausgekommen war.
    Am Dienstagabend ging Emily alle Zimmer durch, sammelte Rufus’ Spielsachen ein und rückte die Zeitschriften zurecht. Sie wischte den Herd und das Spülbecken ab, putzte den wasserfleckigen Hahn, bis er glänzte, und legte einen neuen Topfreiniger hin. Das war alles, was sie tun konnte, wenn sie

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