Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
Vom Netzwerk:
Angriff genommen hatte. Dass ganz viele Bilder aus irgendeinem Anlass offensichtlich gestellt waren, vergrößerte bloß das Rätsel der Vergangenheit, das Unbehagen des Augenblicks verschleiert, verborgen, für die Kamera unsichtbar.
    Während sie die klebrigen, mit Plastikfolie umhüllten Seiten umblätterte und sich mit krauser Dauerwelle oder in grell bedruckter Bluse sah, fand sie es immer wieder beeindruckend, wie lang das Leben dauerte und wie viel Zeit verstrichen war, und wünschte, sie könnte die Zeit zurückdrehen und sich bei allen, die ihr nahestanden, entschuldigen, ihnen sagen, dass ihr inzwischen vieles klargeworden sei. Das war unmöglich, und doch ließ das Bedürfnis, zurückzukehren und ein anderer Mensch zu sein, niemals nach, sondern wurde immer stärker. Ja, Henry war ein Heiliger gewesen - manchmal sogar ein Märtyrer -, aber wie hatten es ihre Eltern mit ihr ausgehalten? Wie hatte sie es geschafft, Margaret nicht zu erwürgen?
    Leichter fiel es ihr, Menschen zu betrachten, an die sie sich nicht mehr erinnern konnte. Ihre Mutter hatte sich der Mühe unterzogen, die Namen ausfindig zu machen, sie, wenn verfügbar, mit Datum auf die Rückseite zu schreiben und kurz hinzuzufügen, in welchem Verhältnis die Leute zu ihnen standen. Um so weit wie möglich zu kommen, wählte Emily nur die Bilder aus, auf denen ganze Familien zu sehen waren. Letzte Weihnachten hatte sie Margaret und Kenneth ein Bild von ihren Ururgroßeltern Benton und deren vier Kindern geschenkt, die zusammen mit ihrem Knecht blinzelnd vor einem baufälligen Farmhaus standen, alle im Sonntagsstaat, die Männer mit dem Hut in der Hand. Ihrem Plan zufolge würde es dieses Jahr ein Atelierfoto von ihren Ururgroßeltern Waite und deren drei Töchtern aus dem Jahre 1872 sein. Vom Blitzlicht waren die Kleider der Mädchen ganz bleich, ihre Gesichter blass und konturlos, die Kleinste, Lily, unsicher zur Seite gewandt. Der Waite’sche Familienzweig war wohlhabender, was sich daran erkennen ließ, dass man sich dieses Porträtfoto leisten konnte, doch von den einzelnen Familienmitgliedern wusste Emily nur wenig. John William Waite war Böttcher gewesen. Kathleen Gamble Waite hatte ihn und zwei ihrer Kinder überlebt, sodass nur die mittlere Tochter Helen ihren Tod betrauern konnte. Emily versuchte sich vorzustellen, in dieser Welt zu leben, und während sie in die Gesichter blickte und sich bemühte, eine Verbindung herzustellen, dachte sie, wie in hundert Jahren einer ihrer Nachkommen ihr Gesicht mustern würde, um sich in ihr Leben und ihre Zeit hineinzuversetzen, und da erkannte sie, wie sinnlos das Ganze war. Warum sollten sich Margaret und Kenneth für diese Fremden interessieren? Sie waren dazu verurteilt, für alle, die sie nicht kannten, bloß Symbole zu sein. Und für diejenigen, die sie kannten?
    Über die Frage, wie sie in Erinnerung bleiben würde, wollte sie nicht nachdenken. Ihr Leben war zumeist glücklich gewesen, ihre Enttäuschungen kaum der Rede wert, ganz gewöhnlich, doch wenn sie an sich selbst dachte, geschah das mit einer Mischung aus Selbstgerechtigkeit und Scham, und sie stellte ihre schlimmsten Momente ihren besten Absichten gegenüber. Nie würde sie vergessen, wie sie Henry beschimpft hatte, wenn sie wütend war, oder wie oft sie ihre Mutter zum Weinen gebracht hatte. In ihrem Heimatort und ihrer Generation glaubte man nicht, wie Margaret und Kenneth, man könnte - oder sollte - sich seine eigenen Sünden vergeben.
    Sie hatte das Foto, das sie suchte, bereits gefunden, und als wollte sie ihren Gedankengang unterbrechen, packte sie die übrigen Bilder in die Kartons und schleppte sie wieder in den Keller hinunter. Dort, in der schmuddeligen Ecke hinter dem Heizkessel, wo eingedrungenes Wasser die Grundmauer schwärzte, ruhte ihre Lebensgeschichte. Sie hatte unzählige Stunden damit verbracht, die Bilder und Andenken in stapelbare Rubbermaid-Kisten zu sortieren, hatte alle ordentlich beschriftet, und dennoch blieb noch jede Menge zu tun. Sie zog an der Schnur der nackten Glühbirne, und alles verschwand.
    Rufus wartete oben an der Treppe auf sie. «Na, wie wär’s mit einer kleinen Spritztour?», fragte sie, während er sich vor Aufregung im Kreis drehte, doch auch als sie das Foto im Rite-Aid abgegeben hatte, um Abzüge machen zu lassen, konnte sie ihren Trübsinn nicht abschütteln.
    Sie ging früh zu Bett und las in Henrys Bibel, während das Chicago Symphony Orchestra Schostakowitsch malträtierte. Sie

Weitere Kostenlose Bücher