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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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legte ein Lesezeichen in die Bibel und lauschte der Musik eine Weile im Dunkeln, während die Weihnachtsbeleuchtung der Coles blinkte und die Zimmerdecke hell färbte. Es war lächerlich, wie sie sich ganz allein in diesen Zustand hineingesteigert hatte. Dazu gab es auch gar keinen Grund. Die Vergangenheit war vergangen. Sie sollte sich lieber mit der Gegenwart beschäftigen, statt in Erinnerungen zu schwelgen, und doch war der einzig tröstliche Gedanke zugleich der ärgerlichste. Die Zeit, von der sie auf die Folter gespannt wurde, würde sie genauso mühelos retten. Dieses Tief war befristet. Morgen würde es ihr wieder besser gehen.
     
    Allradantrieb
     
    Der erste richtige Schnee war stets eine Überraschung. Es begann an einem grauen Tag nach dem Mittagessen, erst nur ein paar dicke Flocken, die zwischen den Bäumen und den Telefonkabeln zur Erde fielen, doch als sie Margarets Bettlaken wechselte, war der Himmel plötzlich ganz weiß, und der Wind fegte in ungestümen Böen die Straße entlang. Am Morgen hatte das Radio vereinzelte Schneegestöber vorhergesagt. Sie dachte, dies müsse eins davon sein, genoss das Schauspiel einen Augenblick und wandte sich dann wieder ihrer Arbeit zu.
    Während sie Kenneths Bett machte, sah sie, dass es ununterbrochen schneite und der Schnee sich im Garten stellenweise sammelte, wenn auch nicht auf dem geteerten Garagendach oder in der Einfahrt. Als sie den Armvoll schmutzige Bettlaken nach unten brachte und die Waschmaschine einschaltete, war das Gras schon ganz weiß. Im Esszimmer saß Rufus in Habachtstellung vor der Verandatür und verfolgte, wie die Vögel kurze Abstecher zu den Vogelhäuschen machten, zumindest bildete sie sich das ein. Als Emily näher kam, sah sie nur einen Meter entfernt auf dem Betonboden der Veranda ein knopfäugiges Eichhörnchen sitzen, das sich die heruntergefallenen Sonnenblumenkerne grapschte.
    Sie war sich nicht sicher, ob es dasselbe Tier war, das sie letzten Winter bekämpft hatte - ein gerissener Talgdieb -, doch das spielte keine Rolle. Alle Eichhörnchen waren ihre Feinde.
    «Was ist los? Was siehst du denn?»
    Als sie nach dem Riegel griff, stand Rufus auf.
    «Schnapp’s dir», flüsterte sie und drehte langsam den Türknauf. «Schnapp dir das Eichhörnchen.»
    «Wusch», sagte sie und stieß die Tür auf. Rufus stürmte hinaus, und als das Eichhörnchen durch den Garten huschte, änderte er die Richtung. Rufus war schon zu alt, seine Hinterbeine bewegten sich gleichzeitig, so wie er auch manchmal die Treppe hinunterhüpfte. In großem Abstand verfolgte er das Eichhörnchen bis zum Fuß des Kirschbaums, blieb dann stehen und blickte in das Gewirr aus Zweigen hinauf, obwohl der kleine Nager längst aufs Garagendach gesprungen war, über den Palisadenzaun am Ende des Hofes balancierte und hinter der Garage der Coles verschwand. Rufus hob das Bein und markierte zur Warnung den Baumstamm.
    «Braver Junge», sagte Emily und hieß ihn im Haus mit einem Hundekuchen willkommen. «Du hättest es fast erwischt.»
    Nachdem er aus seinem Napf ausgiebig Wasser geschlabbert hatte, kehrte er auf seinen Posten zurück, ließ sich hinplumpsen und behielt den Garten im Auge. Emily holte ihren Kalender und ihre Kochbücher, setzte sich an den Frühstückstisch und stellte den Speiseplan für die Weihnachtstage zusammen. Margaret und die Kinder würden fünf Tage bleiben. Am Samstag würden sie von der Reise noch müde sein, und sie könnte etwas Leichtes kochen, zum Beispiel ihre Lasagne. Am Sonntag würden sie abends, nach der Aufführung, im Club essen. Sie musste die Mittagsmahlzeiten planen und Sachen fürs Frühstück kaufen, dafür brauchte sie eine Extraliste. Im Wohnzimmer spielte ein Posaunenchor Gabrielis geistliche Motetten.
    Draußen wirbelte der Schnee und legte sich auf die Steinplatten und die Zweige des Kirschbaums, die Szene so friedvoll wie ein Hiroshige-Druck. Am liebsten hätte sie sich diesem Gefühl noch eine Weile hingegeben und hegte die kindliche Hoffnung, es würde nicht aufhören zu schneien. Jedes Mal, wenn sie aufschaute, empfand sie den Anblick als Glück.
    Als es am Spätnachmittag zu dunkeln begann und ein graues Licht ins Esszimmer drang, war der Schnee auf den Zaunpfählen schon zehn Zentimeter hoch. Der Garten lag unberührt da, nur die im Gras versunkenen Steinplatten zeichneten die Wege zur Garage und zum Tor nach. Als sie Rufus etwas zu fressen gegeben hatte und ihn hinausließ, stellte sie sich, die Arme gegen die

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