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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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hielt. Dann blinkte sie, reihte sich in den Verkehr ein und war verschwunden. Aus praktischen Gründen hatte Emily die Stereoanlage ausgeschaltet, doch jetzt war es im Wohnzimmer ohne ihre Musik totenstill. Nachdem sie den ganzen Tag Gesellschaft gehabt hatte, kam ihr das Haus plötzlich leer vor, aber zugleich war sie erleichtert, wieder allein zu sein, und freute sich, dass das Haus sauber war. Sie ging in die Diele und vergewisserte sich, ob die Sturmtür fest geschlossen war, schob dann behutsam den Riegel vor und verschanzte sich im Haus. Rufus wusste, das war das Zeichen, dass es etwas zu fressen gab, und bellte kurz, um das Ganze zu beschleunigen.
    «Ja, ja», sagte Emily. «Immer mit der Ruhe, mein Dickerchen.»
     
    Familienfotos
     
    Emily fand es nicht morbid, sondern ganz natürlich, dass sie sich mit dem Nahen ihres eigenen Todes immer stärker für ihre Herkunft interessierte und dieses Wissen an ihre Kinder weitergeben wollte. Ihre Mutter und ihr Vater stammten aus Familien, die ihre Wurzeln in den Tälern Nordmittelpennsylvanias hatten, in Orten wie Kersey, Ridgway und St. Marys. Die Männer der Waites und Bentons waren anfangs Farmer, Holzfäller und Bergleute gewesen, bevor sie Händler und Kaufleute wurden, und die Frauen waren, abgesehen von ein paar ledigen Sonntagsschullehrerinnen und Missionarinnen im Allgemeinen Hausfrauen. Ihr eigener Vater hatte bei der Bauaufsicht gearbeitet, während ihre Mutter Vorschulkinder und Erstklässler unterrichtete. Trotz der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs hatten sie sich mühsam einen Platz in der Mittelschicht erkämpft und ihn behauptet, eine Leistung, die ihre eigenen Kinder gar nicht zu schätzen wussten, weil sie einen Wohlstand gewohnt waren, den sie, wie Henry und Arlene, als angestammtes Recht betrachteten.
    Wie um sie an ihre eigenen bescheidenen Anfänge zu erinnern, schenkte Emily Margaret und Kenneth jedes Jahr das gerahmte Foto eines vergessenen Familienzweigs zu Weihnachten, und wenn diese Geschenke anfangs nicht die gebührende Aufmerksamkeit bekamen, so war das in Ordnung. Emily betrachtete das Ganze als Langzeitprojekt, das, genau wie bei ihr selbst, vielleicht erst am Ende ihres Lebens auf Widerhall stieß. Sie hatte ihre Kindheit in Kersey erst richtig würdigen können, nachdem sie von dort geflüchtet war und die lang ersehnte Verwandlung in eine moderne Städterin vollzogen hatte. Nicht dass sie den Ort in ihrer Jugend falsch eingeschätzt hätte - inzwischen fand sie ihn sogar noch schlimmer, ein totes Kaff in den Appalachen -, doch im Rückblick begriff sie, dass sie wie Margaret ein undankbares Kind gewesen war, aus reiner Selbstgefälligkeit störrisch und überheblich.
    Als sie am Esszimmertisch in den rosa geränderten Schwarzweißfotos ihrer Mutter stöberte, Monat und Jahr an allen vier Seiten ordentlich aufgeprägt, fand sie Bilder von sich, auf denen sie mit verschränkten Armen auf einem Steg stand, am Kotflügel des Plymouth lehnte oder, einen Apfel essend, auf der Treppe hinterm Haus saß, stets mit finsterer Miene, als hätte sie ausdrücklich gebeten, nicht fotografiert zu werden. Als Kind hatte sie zu Gefühlsausbrüchen geneigt, hatte oft geweint, vor sich hin gegrübelt oder theatralische Wutanfälle bekommen. Wenn sie erst einmal losgelegt hatte, ließ sie sich nicht mehr beschwichtigen. Warum, hatte ihre Mutter geklagt, musste sie sich so aufführen? Darauf gab es keine zufriedenstellende Antwort. So war sie nun mal. Schwierig. Empfindlich. Boshaft. Ihre Verwandten schoben es auf den Umstand, dass sie ein Einzelkind war, durch zu viel Aufmerksamkeit verwöhnt. Ihr Vater hatte versucht, es ins Witzige zu ziehen. Das kleine Fräulein Launisch, das man besser in Ruhe ließ. Warte bloß, bis du selbst Kinder hast, hatte ihre Mutter gewarnt, als würde Emily ihr Naturell wie eine Erbkrankheit weitergeben, bis es zwangsläufig so kam, und ach, wie lächerlich, das Hab-ich-dir-doch-gesagt kein Ende nahm. Sie konnte sich noch erinnern, wie oft sie versucht hatte, Margaret und Kenneth zu einem Lächeln zu überreden - Kenneth war so sanft wie Henry, folgte jedoch dem Beispiel seiner großen Schwester -, damit sie keine Gruppenfotos verhunzten (und Emily nicht in Verlegenheit brachten). Auch diese Fotos hatte sie da, die beste Zeit ihres Familienlebens sorgfältig in unzähligen Alben dokumentiert, eine Arbeit, die sie so lange aufgeschoben hatte, bis die Kinder aus dem Haus waren, und dann voller Hingabe in

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