Emily, allein
Schimpfkanonade am Telefon. Da hatte Emily sie noch für unvernünftig gehalten. Doch jetzt war sie völlig ihrer Meinung.
«Ich glaube, ich muss mich setzen», sagte Arlene auf der Rolltreppe, und als Emily bestürzt reagierte, tätschelte sie ihr den Arm. «Mir geht’s gut, ich muss nur mal die Füße ausruhen.»
Bei dem Gedrängel waren Sitzplätze sehr gefragt. Emily brachte Arlene in einer Nische zwischen den Mietwagenständen unter, und als sie sich vergewissert hatte, dass es ihr gutging, machte sie sich auf die Suche nach einem Hershey-Riegel, der ihr über die Runden helfen würde. In dem kleinen Zeitungsladen zuckte sie beim Anblick des Preises zusammen und dachte, das hätte sich vermeiden lassen, wenn sie das Tiramisu auf den Tisch gebracht hätte. Aber warum sollte an diesem Tag auch nur einer ihrer Pläne funktionieren?
Sie hatte den Glauben verloren oder zumindest die dafür notwendige Energie. Während sie neben Arlene saß, überkam sie der Drang aufzugeben, sich auf die schmutzigen Sitze zu legen und einzuschlafen. Entgegen dem klugen Rat ihrer Großmutter hatte sie kein Buch mitgenommen, ihr Kopf war leer, und sie jonglierte mit den Buchstaben der Schilder (AUSGANG: AUS, GANG, SAUNA, GANS) und musterte die schlangestehenden Menschen.
«Willst du ein Stück?», fragte Arlene, hielt ihr den Schokoriegel hin, und Emily brach sich etwas ab.
Das Rätsel der Chemie. Einen Augenblick fühlte sie sich durch die auf ihrer Zunge schmelzende Schokolade besser.
«Das hier habe ich wirklich nicht erwartet.»
«Bitte», sagte Arlene. «Ist doch nicht deine Schuld.»
«Ich wünschte, sie hätte angerufen.»
Während sie warteten und die Rolltreppe im Auge behielten, dachte Emily an alles, was sie am nächsten Tag unternehmen würden. Nach der Kirche mussten sie den Baum besorgen. Sie hatten Karten für die Nussknacker-Matinee im Benedum Center, und im Club war fürs Abendessen ein Tisch reserviert. Hoffentlich konnten sie hinterher noch zur Carnegie Hall fahren und sich die geschmückten Weihnachtsbäume aus aller Welt ansehen (in der Zeitung stand, es werde auch Weihnachtslieder zum Mitsingen geben), doch inzwischen hatte sie Angst, sie könnte dort vielleicht umkippen.
«Wie spät ist es bei dir?», fragte Arlene, als könnte sie ihrer eigenen Uhr nicht trauen.
Die letzten zehn Minuten waren endlos. Um Punkt elf war auf dem Bildschirm zu lesen, dass die Maschine gelandet sei, und Emily und Arlene stellten sich am Fuß der Rolltreppe zu den anderen Familien und den wartenden Chauffeuren.
«Ich hab das Gefühl, wir sollten ein Schild hochhalten», witzelte Arlene.
Über ihnen erschien ein Mädchen mit Sarahs rotem Haar, ein Filzgeweih auf dem Kopf, aber sie war es nicht. Ein Soldat in Wüstentarnuniform sagte nein, diese Maschine komme aus Atlanta.
«Die lassen sich aber ganz schön Zeit», sagte Arlene.
«Es ist ein großes Flugzeug», erwiderte Emily. «Und dann müssen sie noch ein ganzes Stück zu Fuß gehen und auf den Zug warten.»
Sie kommen, wenn es so weit ist, hatte ihre Mutter immer gesagt, und jetzt, wo sie fast da waren, machte sich Emily Sorgen, dass der Besuch, wie in der Vergangenheit, vielleicht nicht glatt ablaufen würde. Zusätzlich zu ihrer ganzen Feiertagsplanung musste sie mit Margaret ernste Angelegenheiten besprechen - letzte Dinge, falls das nicht zu melodramatisch klang. Sie erwartete nicht, dass sie plötzlich zu einem tieferen Verständnis füreinander, geschweige denn zu gegenseitiger Akzeptanz fanden. Sie wollte Margaret bloß ihre letzten Wünsche mitteilen, wollte, dass Margaret sie respektierte, wie Kenneth es bestimmt tun würde. Das Geld war da noch die geringste Sorge.
«Sind sie das?», fragte Arlene. «Ich kann’s nicht erkennen.»
«Ich glaube nicht», sagte Emily, denn das hübsche Mädchen, das neben dem zotteligen, dunkelhaarigen Jungen stand, der wie Justin aussah, war eine Blondine. Erst als sie herunterkamen und Margaret hinter ihnen auftauchte, begriff Emily, dass das Mädchen Sarah war.
«Was hat sie denn mit ihrem Haar angestellt?», fragte Arlene.
«Was machst du mit deinem?»
«Ich weiß, aber … es gefällt mir nicht.»
«Mir schon», sagte Emily, als sei sie überrascht, und winkte, um die Aufmerksamkeit der drei zu erregen.
Sie hielten sich zurück, bemühten sich, den anderen Leuten nicht den Weg zu versperren, und ließen Sarah und Justin herüberkommen. Sarah duftete lieblich nach Mandarine, Justin stark nach Körperspray. Hinter
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