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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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geröteten Augen und immer wieder niesend nach unten kam, lenkte Emily ein. Nachdem sie ihr ganzes Leben mit Migräne zu kämpfen hatte, fand sie Krankheit verzeihlich. Sie versorgte Sarah mit Suppe und Kaffee und stellte ihr eine Schachtel Kleenex hin. Es war in Ordnung, wenn sie lieber zu Hause blieb, als einen Baum auszusuchen, doch zu Emilys Erleichterung kam sie mit.
    Emily hatte sich den Baumkauf nicht bloß aufgespart, weil sie Hilfe brauchte, sondern auch weil sie dachte, es würde ihnen Spaß machen, sich als Familie darum zu kümmern. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie im Schnee durch das Labyrinth aus wohlriechenden Waldkiefern und Blautannen stapften, ihre Lieblingsbäume auswählten und dann abstimmten, wie es die Kinder immer getan hatten, als sie noch klein waren, doch es war sonnig und fast zehn Grad warm, und sie hatten zu lange gewartet. Die Bäume, die bei der Gehörlosenschule noch übrig waren, passten in eine Ecke des Basketballfelds. Sie lehnten am Zaun, struppige, verwachsene Ausschussware, die nicht einmal die Hälfte des geforderten Preises wert war. Selbst der beste Baum wies riesige Lücken auf. Die Frage lautete nicht, welchen sie auswählen sollten, sondern ob es überhaupt sinnvoll war, einen davon zu nehmen, und obwohl Emily sich nach Hilfe umsah, fiel ihr die Entscheidung zu, da sie die Leiterin dieser schlecht durchdachten Unternehmung war.
    «Justin, mein Lieber, kannst du den mal hochhalten? Danke, das ist er. Was meint ihr? Vielleicht wenn wir diese Seite zur Wand drehen?»
    «Er soll nicht vor dem Fenster stehen?», fragte Margaret voller Enttäuschung.
    «Ich glaube, hier gibt’s keinen, den wir vors Fenster stellen könnten. Besser werden wir es wohl nicht hinkriegen.»
    Einen Augenblick schwiegen alle, völlig passiv, als wäre Emily die einzige treibende Kraft. Warum waren sie dann überhaupt mitgekommen? Bloß weil sie es so gewollt hatte?
    Schließlich trat Arlene einen Schritt vor und zupfte an den Zweigen. «Er ist ein bisschen ungleichmäßig, aber es dürfte gehen.»
    Justin stand mit gesenktem Kopf da und wirkte gelangweilt.
    «Sarah?»
    «Er könnte wie ein Charlie-Brown-Baum aussehen.»
    Das genügte Emily als Zustimmung. Sie hatte keine Lust mehr, sie weiter aufzumuntern. Sie bezahlte den Verkäufer, bat ihn, den Stamm noch mal abzuschneiden, und half ihm dann, den Baum in die Decke zu hüllen, die sie mitgebracht hatte, damit die Zweige nicht das Dach zerschrammten.
    Zu Hause hatten sie gerade noch genug Zeit, den Baum auf der hinteren Veranda in den Ständer zu stellen, bevor sie sich für den Nussknacker umziehen mussten, und als Emily im abgedunkelten Benedum Center saß, wurde sie das Gefühl nicht los, eine Aufgabe nicht erledigt zu haben. Genau wie es sein sollte, saßen in der Nachmittagsvorstellung jede Menge Familien, doch eine hatte den Fehler begangen, ein Baby mitzubringen, und das Ganze noch verschlimmert, indem sie das Kind nicht hinausbrachten, als es zu schreien anfing. Mehrmals verstummte es, nur um kurz darauf wieder loszulegen, eine geradezu komödiantische Foltermethode, die von den Platzanweisern erstaunlicherweise geduldet wurde.
    Wegen der für diese Jahreszeit ungewöhnlichen Wärme war es im Theater stickig, ein chronisches Problem. Mitten im zweiten Akt streckte Justin die Hand über Margaret hinweg, tätschelte Emilys Arm und deutete auf Arlene. Sie war ohnmächtig, ihr Gesicht schlaff, die Hände locker im Schoß liegend, und Emily bekam einen Schreck und dachte ans Eat ‘n Park, bis sie merkte, dass Arlene, eingelullt von der Hitze und dem Schneckentempo des Balletts, bloß döste. Damit sich niemand über sie lustig machte, forderte sie Justin auf, ihr einen leichten Stoß mit dem Ellbogen zu versetzen. Arlene erwachte und blickte die Reihe entlang, und Emily nickte wie die Aufsicht bei einer Prüfung.
    Zu ihrer Rechten musste sich Sarah immer wieder räuspern und Papiertaschentücher an die Nase drücken, und Emily dachte, dass sie vielleicht besser zu Hause geblieben wäre. Schließlich hatten sie diese hölzerne Inszenierung schon ein Dutzend Mal gesehen. Justin hatte kein Interesse daran, falls er es je gehabt hatte. Obwohl sie kein Fan von Tschaikowsky war, konnte sich Emily Weihnachten nicht ohne den Nussknacker vorstellen, genauso wie sie auf die Bäume in der Carnegie Hall und den Messias zum Mitsingen zählte, doch während sie da saß und die Handlung kaum verfolgte, kam sie zu dem Schluss, dass es vielleicht das letzte

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