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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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Frage war, ob er ihr letzter Hund sein würde. Es kam ihr illoyal vor, sich darüber Gedanken zu machen, doch die Vorstellung, ganz allein zu sein, bereitete ihr noch größeres Unbehagen. Ein Welpe kam für sie keinesfalls in Betracht. Sie hatte nicht mehr genug Energie, um noch mal ganz von vorn anzufangen. Vielleicht einen älteren Rettungshund, die wollte sonst bestimmt niemand haben. Ein Golden Retriever oder ein Setter. Wasserhunde fand sie schon immer toll.
    Einstweilen hätschelte sie Rufus, schüttelte sein Bett auf, gab ihm Küsse und goss Hühnerbrühe über sein Trockenfutter, damit es weicher wurde. Die Kälte hielt an, und der Boden war immer noch schneebedeckt, nachmittags zündete sie ein Feuer an, und Rufus kam, von dem Duft angelockt, nach unten und schlief am Kamin, wenn sie lesend in Henrys Sessel saß. Während die Stereoanlage lief und das Pendel der Standuhr seinen festgelegten Bogen beschrieb, blickte sie ab und zu von der Seite auf und sah ein Idyll - der herabfallende Schnee draußen, die züngelnden Flammen im Kamin, der treue, davor dösende Hund. Wie er so auf der Seite lag, sah er ganz friedlich aus, sein Profil majestätisch, ein Spross aus königlichem Geschlecht. Nie empfand sie für ihn eine größere Zärtlichkeit, als wenn er schlief.
    Er war ihr Hund, genau wie Duchess Henrys Hund gewesen war. Henry hatte Rufus nie gemocht, hatte gesagt, er sei zu raffiniert, und Emily vorgeworfen, sie lasse sich von ihm ausnutzen. Sie hatte ihn verteidigt, obwohl es stimmte. Er konnte goldig sein und ihr Gesellschaft leisten, und wenig später spazierte er in die Küche und steckte die Nase in den Müll. Er fraß einfach alles - Salat, Tennisbälle, Brieftaschen. Einmal hatte er einen von Henrys Gürteln vertilgt und bloß die Schnalle übrig gelassen. Eine Woche lang hatten sie Lederfetzen in seinen Häufchen gefunden. Es ließ sich nicht leugnen, von all ihren Hunden war er bei weitem der Schlimmste, und dennoch verlieh ihm diese Unverbesserlichkeit einen spitzbübischen Charme. Anders als Duchess war er nicht dumm. Er wusste, was er tat, es kümmerte ihn nur einfach nicht. Seine Aufsässigkeit war wie seine Fresslust eine Naturgewalt, und ihn so geschwächt zu sehen, war nicht leicht.
    Der Tag nach Washingtons Geburtstag war ein trüber Samstag, an dem kaum Licht durch die Jalousien drang, und Emily hätte gern ausgeschlafen, doch es wartete eine lange Liste von Besorgungen, deren wichtigste war, die Zutaten für einen Streuselkuchen zu kaufen, den sie am nächsten Tag zum Kaffeekränzchen mitbringen wollte. Beim Duschen überlegte sie, was sie an Lebensmitteln brauchte, und wiederholte es in Gedanken, als sie die Schlafzimmertür öffnete. Sie dachte nicht an Rufus direkt hinter ihr, gerade wach geworden und ausgehungert. Sie war einzig auf Backpulver, Vanille, hellbraunen Zucker, eine Kuchenform konzentriert. Sie musste es bloß bis zum Notizblock am Kühlschrank schaffen, denn sie war in letzter Zeit vergesslich geworden und zweifelte an ihrem Gedächtnis. Sie hatte eine Aufgabe zu erledigen und trat mit großen Schritten in den Flur, bevor er sich an ihr vorbeidrängen konnte.
    Als sie an die Treppe kam, sah sie ihn aus dem Augenwinkel. Er hatte es eilig und versuchte, an ihr vorbeizugelangen, sich durch die Lücke zwischen dem Treppenpfosten und ihrem rechten Bein zu zwängen. Sie sah, dass er zu schnell war, und machte sich auf das Schlimmste gefasst, als er um die Ecke schoss und sein Hinterteil wegrutschte.
    «Stopp!», rief sie, aber zu spät. Sie stand fest auf dem Boden, und er prallte gegen ihr Bein, drehte sich, verfehlte die erste Stufe, schlitterte seitwärts hinab und verlor völlig die Kontrolle.
    Emily erstarrte und umklammerte das Geländer, und auch wenn es nutzlos war, streckte sie die andere Hand aus wie eine Hexe, als könnte sie ihn durch Zauberkraft aufhalten, während er mit strampelnden Beinen von Stufe zu Stufe polterte, mit den Krallen Halt suchte, schließlich auf die Schulter rollte und mit einem Krachen landete, das das ganze Haus erschütterte.
    Eine Hand am Geländer eilte sie nach unten, voller Angst, er könnte sich etwas gebrochen haben.
    Er hinkte, war noch ganz benommen und sah sie nicht an, und sie fragte sich, ob er eine Gehirnerschütterung hatte.
    «Alles in Ordnung», sagte sie, kniete sich hin und nahm ihn in die Arme, um seine Rippen und seine Beine abtasten zu können. Sie spürte bloß seine Geschwulste. «Ich weiß, das war schrecklich. Was hab

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