Emily, allein
Fenster schaute, dachte sie wie immer daran, Kay Miller zu besuchen, obwohl Kay keine Ahnung haben würde, wer sie war. Emily kannte die Wohnanlage, über die Brücke dauerte es vielleicht zehn Minuten. Das musste sie wirklich tun. Es gab keinen Grund, es nicht zu tun.
Sie hatte den ganzen Tag schlechte Laune, kippte ihren kalten Tee ins Spülbecken und trug seufzend die üblichen Eichelhäher, Kleiber und Meisen in ihr Vogeltagebuch ein. Sie konnte sich nicht erinnern, bei Millie Bennetts oder Gloria Albrights Tod von solchem Trübsinn befallen worden zu sein. Sie vermutete, dass das Wetter und ihre Sorge um Rufus dazu beitrugen. Louise hatte auf den Frühling gewartet. «Ich weiß, wenn ich bis dahin durchhalte», hatte sie gesagt, «dann geht’s mir wieder besser. Wenn die Tage länger sind, ändert das alles.»
Emily dachte inzwischen genauso. Bis zur Blumenausstellung waren es nur noch drei Wochen, doch das erschien ihr weit weg. Sie war schon zu lange im Haus eingesperrt, ihren eigenen klaustrophobischen Gedanken ausgeliefert. Kenneth kam über Ostern - Lisa auch, aber sie würden sich aus dem Weg gehen -, und dann war Frühling, und sie würde im Garten beschäftigt sein. Im Sommer lebte sie hinten im Garten, jätete Unkraut, sonnte sich, während auf Henrys Transistorradio QED lief, und ließ sich geruhsame Mahlzeiten auf der Veranda schmecken, zum Abendessen ein Glas gekühlten Chablis. Wenn Ende Juli die Feuchtigkeit allmählich drückend wurde, würde sie das Haus abschließen, sich darauf verlassen, dass Jim und Marcia ihren Garten sprengten, und nach Chautauqua fahren, wo die ganze Familie für eine Woche wiedervereint sein würde. Auf diese Woche der Erneuerung, an deren Ende sie sich danach sehnen würde, wieder in ihre Einsamkeit zurückzukehren, freute sie sich besonders. Alles war ein Kreislauf, das hier war bloß der schwierigste Teil. Wenn sie letzten Winter überstanden hatte, die lange, schreckliche Wache an Louises Bett, dann konnte sie natürlich auch das überstehen. Nach Henry konnte sie alles überstehen.
Als sie sich am nächsten Morgen anzog, entdeckte sie, dass am Ärmelaufschlag ihrer perlenbesetzten Jacke das Schildchen einer chemischen Reinigung befestigt war. Die Jacke hatte sie zum letzten Mal auf Glorias Beerdigung getragen. Sie fragte sich, ob das irgendwer merken würde, und dachte, Lorraine ganz bestimmt.
Der Gottesdienst war für zehn Uhr angesetzt, das hieß, dass sie spätestens um halb zehn dort sein mussten, um noch einen Parkplatz zu bekommen. Emily kündigte sich telefonisch an, und Arlene wartete schon am Fuß der Treppe auf sie. Sie hatte sich das Haar frisieren lassen, und das satte, künstliche Henna ließ ihr Gesicht blass erscheinen.
«Morgen», sagte Emily.
«Morgen.»
Eine Weile fuhren sie schweigend, wie zwei Fremde, die eine Fahrgemeinschaft bildeten. Sie überquerten die Fern Hollow Bridge, und zur Rechten glitt der verschneite Homewood Cemetery vorbei, die Grabsteine und Mausoleen auf den sanften Hügeln verstreut. Arlene klappte den Schminkspiegel herunter, zog ihren Lippenstift nach und drückte dann den Schnappverschluss ihrer Handtasche zu.
«Ich denke, dass es Speisen und Getränke gibt.»
«Das glaube ich auch», sagte Emily.
«Kannst du dich noch an Gene Hubbards Beerdigung erinnern?»
«So feudal wird es wahrscheinlich nicht sein.»
«Egal, wer den Empfang ausgerichtet hat, so einen will ich auch haben.»
«Die Cannoli.»
«Die Cannoli, die Krabbenpasteten, diese kleinen Käse-mit-Spinat-Dinger.»
«Empanadas.»
«Und keine Sandwiches. Ich will nicht, dass man sich seine Sandwiches selbst machen muss.»
«Schließlich ist es kein Picknick», sagte Emily, sie weiter anstachelnd.
«Stimmt. Und auch kein Häppchenbuffet. Es darf nicht von den Knien gegessen werden. Gib den Leuten einen Tisch, damit sie richtig essen können.»
Früher hätte Emily dieses Gespräch als den Gipfel der Taktlosigkeit betrachtet, doch als Stammgast bei diesen allzu häufigen Treffen hatte sie dieselben Klagen und hegte dieselbe Hoffnung, dass ihr eigener Empfang ein Erfolg sein würde. Direkt nach Henrys Trauergottesdienst hatte sie begonnen, ihren eigenen zu planen, hatte die Musik und die zu lesenden Texte ausgewählt, gelegentlich an Verbesserungen herumgefeilt, ihre Vorstellungen auf den neuesten Stand gebracht und alles in einer Mappe abgeheftet, die sie bei ihren wichtigen Papieren aufbewahrte. Um den Kindern klarzumachen, dass sie es ernst meinte,
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