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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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da ist», sagte Arlene, als sie sich gesetzt hatten.
    «Tut mir leid. Ich dachte, mit dem Parken gäbe es mehr Probleme.»
    «Ich beklage mich gar nicht. Siehst du unsere Lilien irgendwo?»
    «Da, auf der linken Seite.»
    «Ich werde wirklich langsam blind.»
    «Auf den Stufen.» Emily deutete mit dem Finger darauf. «Die Vase gefällt mir.»
    «Ich hab die schlichteste genommen, die sie dahatten.»
    «Das haben sie gut gemacht. Du musst mir noch sagen, wie viel ich dir schulde.»
    Die Leute kamen allmählich herein, zittrig und gebeugt, von Jüngeren gestützt wie Leichtverwundete. Die meisten hatten sie seit Weihnachten nicht mehr gesehen, andere seit Thanksgiving, und die beiden nahmen ihre Anwesenheit mit Erleichterung auf - wie bei Claude und Liz Penman, obwohl sie noch im Rollstuhl saß und abgemagert zu sein schien. Wie bei jeder Clubfeier fehlten offensichtlich einige, und es wurde endlos über ihre Gesundheit spekuliert.
    Während sich Arlene mit gerecktem Hals umschaute, warf Emily einen Blick ins Programm, als wären sie in einem Konzert. Angesichts der Tatsache, dass Lorraine und Edie zu den Leuten gehörten, die Doug Pickering Kulturbeflissene genannt hatte, erwartete sie eine interessante Auswahl, doch sie war unangenehm überrascht, ganz oben auf der Seite ihr Präludium in g-Moll von Buxtehude zu sehen.
    Hatte sie es mal Lorraine gegenüber erwähnt? Denn Donald Wilkins hatte es seit einer Ewigkeit nicht mehr gespielt. Das übrige Programm war ziemlich normal, etwas Schwülstiges von Charpentier und der stets verlässliche Clarke, ein paar Klassiker von Bach. Abgesehen von dem Buxtehude hätte es von jedem beliebigen Kapellmeister zusammengestellt sein können.
    Das ist mein Stück, hätte sie am liebsten zu Arlene gesagt - sie konnte es anhand ihrer Papiere beweisen - und verzichtete nur aus Scham darauf. War sie wirklich so selbstsüchtig?
    Nein, denn als es der Organist spielte, Lorraines Familie mit Edie in den beiden ersten Reihen, umgeben von einer herzerquickenden Schar alter Freunde, verspürte Emily dieselbe innere Ruhe, die sie zu Hause überkam. Der Organist spielte den eingängigen Mittelteil etwas zu schnell, doch im Großen und Ganzen war sie zufrieden.
    Pfarrer Waters hielt die Predigt, über die Verwendung, die Gott für jeden von ihnen habe. Wie Pfarrer Lewis in der Calvary Church gehörte George Waters zu den Gemäßigten in der anglikanischen Diskussion, worin Emily infolge zahlloser Kaffeekränzchen eher einen Machtkampf sah als ein Referendum über Schwule, obwohl die Rechten mit ihren Argumenten wie üblich auf die verwundbarste Minderheit zielten, eine Taktik, die sie eindeutig unchristlich fand. Im Rundschreiben der Diözese hatte Pfarrer Waters den neuen Bischof von Pittsburgh offen getadelt, der - nicht zuletzt als Druckmittel - gedroht hatte, das Vermögen mehrerer bekannter Gemeinden, darunter auch das der Calvary Church, zu beschlagnahmen, woraufhin diese überlegt hatten, gegen ihn zu prozessieren. Emily wollte eigentlich Pfarrer Waters zuhören, doch als er von den vielen Rollen Lorraines als Tochter, Ehefrau, Mutter, Großmutter und (dabei Edie zunickend) Freundin sprach, beschäftigten sich Emilys Gedanken, obwohl sie wusste, dass es falsch war, unwillkürlich wieder mit dem unglaublichen Zufall, und sie versuchte, statt über ihren eigenen Nutzen nachzudenken, eine Erklärung dafür zu finden. Es ärgerte sie, dass ihr diese Sache keine Ruhe ließ. Hielt sie sich für etwas Besseres als Lorraine, glaubte sie, irgendwie ein größeres Anrecht auf Buxtehudes Genie zu haben? Sie konnte geradezu hören, wie ihre Mutter ihr eine Standpauke hielt, weil sie sich für etwas Besonderes hielt. Ich weiß nicht, wo du diesen Gedanken herhast, denn so habe ich dich nicht erzogen.
    Die dröhnende Musik Charpentiers holte sie wieder in die Gegenwart zurück. Um ihren Gedanken Einhalt zu gebieten, konzentrierte sie sich auf den vorbetenden Pfarrer Waters, der Gott bat, seine Dienerin Lorraine im ewigen Leben zu schützen und zu erhalten, etwas, woran Emily glauben musste und das sie Lorraine ernsthaft wünschte, und so gewann sie ihre Fassung wieder.
    Während der düsteren, schwermütigen Klänge von Bach kam sie zu dem Schluss, dass weder Lorraine noch Louise oder das Präludium von Buxtehude sie derart überreizt hatten, sondern die Fragilität von allem. Es war ein harter Winter gewesen, in dem Arlene im Krankenhaus gelegen und Sarah Emily mit ihrer Erkältung angesteckt hatte.

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