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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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ich dir immer gesagt? Du musst auf der Treppe vorsichtig sein. Wie fühlst du dich jetzt? Okay, zeig mal deine andere Pfote.»
    Sie konnte nichts Auffälliges entdecken, doch er hinkte immer noch und schonte sein linkes Hinterbein. Sie betrachtete ihn mit klinischem Blick, bis sie begriff, dass er unterwegs in die Küche war. Er wollte sein Frühstück haben.
    «Du bist mir schon eine Marke», sagte sie. «Ich weiß zwar nicht, was für eine, aber eine Marke eben.»
    Gleichermaßen erstaunt war sie, dass sich ihre Liste bei der ganzen Sache nicht in Luft aufgelöst hatte. Während er fraß, schrieb sie alles auf. Backpulver, Vanille, hellbrauner Zucker, eine Kuchenform.
    Natürlich hatte der Tierarzt noch keine Sprechstunde. Wenn es sich um einen Notfall handle, könne sie eine Nachricht hinterlassen - sinnlos, aber sie tat es trotzdem und erläuterte die Situation. Zu ihrem Erstaunen riefen sie um Punkt acht Uhr zurück. Wenn sie sich um ihn Sorgen mache, solle sie ihn unbedingt vorbeibringen. «In seinem Alter sollte man vorsichtig sein», sagte der Pfleger Michael, denn sie kannten Rufus dort, und sie kannten Emily.
    Emily musste ihm in den Subaru helfen. Er bekam die Vorderpfoten aufs Heck, doch sie musste sich bücken, seinen Hintern umschlingen und ihn hineinheben - noch während sie damit beschäftigt war, wurde ihr klar, dass es vermutlich unklug war.
    Ob Notfall oder nicht, sie musste dennoch zwanzig Minuten warten und ertrug die abgedroschenen Hits und geistlosen Werbespots eines unerklärlicherweise eingestellten Softrocksenders. Rufus zerrte an der Leine, um all die verschiedenen Gerüche wahrnehmen zu können, während sich Emily daran erinnerte, wie sie Margaret in die Unfallstation gebracht hatte, als sie sich beim Schlittschuhlaufen in Panther Hollow das Handgelenk verstauchte. Sie war mit Kenneth zusammengestoßen und unglücklich gestürzt, und bis heute behauptete Margaret, nur halb im Scherz, Kenneth habe ihr ein Bein gestellt. Dritte Klasse, dann musste sie zehn gewesen sein. 1963. Nicht nur Henry und ihre Eltern, auch Jack Kennedy war damals noch am Leben gewesen. Der Vietnamkrieg hatte noch nicht offiziell begonnen. Konnte das sein? Wie jede Erinnerung war es eine Täuschung, die sie in Versuchung führte, etwas zu empfinden, das inzwischen völlig imaginär war. Emily war untröstlich, obwohl sie deutlich vor sich sah, wie Margarets Daumen aus dem Gipsverband ragte, auf dem in Leuchtfarben überall die Namen ihrer Klassenkameraden prangten.
    «Sie sind dran», sagte Michael und öffnete die Halbtür nach hinten.
    «Moment», rief Emily, denn Rufus zog sie bereits von ihrem Stuhl. «Er glaubt, er bekommt einen Hundekuchen.»
    «Nur wenn er brav ist.»
    Dr. Magnuson war ihr Lieblingsarzt, sie war dankbar, dass er diesmal da war (sein Teilhaber Dr. Sharbaugh konnte zerstreut und kurz angebunden sein, desinteressiert an Emilys Erläuterungen). Wie Dr. Sayid war er jünger und besaß eine stille Entschlossenheit, die sie beruhigte. Er war auch sehr groß, größer als Henry, ein kräftiger, rosiger Schwede mit Nickelbrille und strähnigem, fast weißem Haar. In seinem Laborkittel sah er noch imposanter aus, doch er sprach leise und war stets offen, ein aufmerksamer Zuhörer. Seine Hände waren richtige Pranken, und als er bei Rufus behutsam Rücken, Hüften und Bauch untersuchte, erinnerte er sie an den freundlichen Riesen in einer Kindergeschichte.
    «Er hat vielleicht eine Bänderzerrung, aber ich kann nichts finden, das auf etwas Schlimmeres schließen lässt.»
    «Vielen Dank», sagte sie und drückte die Hand an ihr Brustbein. «So wie er gestürzt ist, war ich mir ziemlich sicher, dass er sich etwas gebrochen hat.»
    «Für alle Fälle sollten Sie ihn ein, zwei Tage lang im Auge behalten. Wenn Sie in seinem Stuhl oder Urin Blut sehen, sollten Sie ihn sofort herbringen.»
    «Mach ich.»
    «Ich würde sagen, er hat großes Glück gehabt.»
    «Hast du das gehört?», sagte Emily, Nase an Nase mit Rufus. «Du musst vorsichtig sein. Du kannst dich nicht immer an den Leuten vorbeidrängen, wenn dir danach ist.»
    Die Kosten für den Besuch waren der reinste Wucher, wie sie Arlene mit großen Augen erzählen würde, aber ehrlich, was blieb ihr denn anderes übrig? Das meinte sie nicht völlig ernst. Auch wenn es sie schmerzte, den Betrag in ihr Scheckheft einzutragen, war die Beteuerung des Arztes, es sei nichts Ernstes, das Geld durchaus wert. Sie hatte mit etwas viel Schlimmerem gerechnet.
    Am

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