Emily, allein
Es war keine Übertreibung zu sagen, die nächste Beerdigung könne ihre eigene sein. Inzwischen rechnete sie mit dem Schlimmsten, nicht aus Selbstmitleid (obwohl sie weiß Gott nicht dagegen gefeit war), sondern weil in ihrem Alter genau das sie erwartete. Zumeist lenkte sie sich von diesem Grundwissen ab, indem sie ihre ausgefeilten Pläne ersann. Doch jetzt geriet sie angesichts des kleinsten Schwachpunkts darin in Panik. Ihr Tod würde nichts Besonderes sein, warum auch? Ihre Mutter hatte recht. Vor Gott waren sie alle gleich.
Der Empfang fand im Speisesaal statt - ein warmes Buffet und runde Tische, die an der Wand aufgestellt waren -, doch bevor die Gäste einen Bissen zu sich nehmen konnten, erwartete sie der Spießrutenlauf des Kondolierens. Lorraines Familie war zahlreich vertreten, eine Schar stämmiger Skandinavier mit rosigen Wangen. Weder Emily noch Arlene kannten einen von ihnen. Der Saal hatte eine hohe Decke, und da viele Leute redeten, konnte Emily kaum etwas verstehen. Sie folgte Arlene von einer Person zur nächsten, reichte jeder die Hand und beugte sich vor, um sich vorzustellen und immer wieder mit denselben Worten ihr Beileid zu bekunden. «Sie war eine wirklich teure Freundin, stets an allem interessiert.»
Ganz am Ende, von der Familie aufmerksamerweise mit einbezogen, stand Edie, die lächelte, statt schmerzerfüllt zu schluchzen, ihr Gesicht zu einer glücklichen Maske erstarrt, als würde man ihr gratulieren. Neben der Schar blasser Riesen wirkte sie klein, dunkel und zerbrechlich. Zum ersten Mal, seit Emily sich erinnern konnte, umarmte sie Arlene.
«Ich wusste gar nicht, dass Lorraine so viele Kinder hatte», sagte Arlene.
«Sie sind ganz wundervoll», erwiderte Edie. «Pfarrer Waters hat seine Sache gut gemacht. Und herzlichen Dank für die Blumen.»
Edie breitete die Arme aus, Emily umarmte sie kurz und ließ sie dann los, den Duft ihres Puders noch in der Nase. Sie wollte sagen, dass es ihr leidtue, dass sie wisse, was für ein schrecklicher Verlust es sei, doch Edie strahlte unerschütterlich, und Emily fügte sich ihrer besseren Einsicht.
«Es war sehr schön», sagte Emily und nickte, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. «Die Musik war wunderbar.»
Der Schaden
Erst mehrere Tage später, als Emily ihre Sachen aus der chemischen Reinigung abgeholt hatte und den Wagen aufschloss, sah sie die Kratzer an der Tür. Zwei zickzackförmige Schrammen, als hätte jemand eine Grillgabel über den Lack gezogen.
Den Schlüssel noch in der Hand, stand sie da wie erstarrt und machte dasselbe ungläubige, angewiderte Gesicht, als hätte sie im Keller eine an einer Leimfalle klebende Maus entdeckt. Sie rieb mit dem behandschuhten Daumen über die beiden Rillen, als ließen sie sich zusammen mit dem grauen, im Winter festgetrockneten Salz abwischen, doch durch den sauberen Fleck waren sie bloß noch deutlicher zu erkennen. Die Rillen waren tief, und darunter kam eine hellere Farbe zum Vorschein - Grundierung oder blankes Metall. Wahrscheinlich konnte das in einer Werkstatt wieder in Ordnung gebracht werden, das wäre der billigste Weg. Sie war sich nicht sicher, wie viel ihre Versicherung abdecken oder wie sich das auf ihre Prämie auswirken würde. Jedenfalls würde es teuer und zeitraubend werden.
Bis zu diesem Augenblick war es ein ergiebiger Nachmittag gewesen. Sie ließ sich durch diese Entdeckung nicht aus dem Konzept bringen, sondern fuhr weiter zum Postamt und zur Bücherei, doch noch während sie all das erledigte, befiel sie ein Gefühl der Sinnlosigkeit, ihre ganze emsige Sorgfalt durch einen kurzen Fehler vergeudet. Denn ihre Vorahnung war richtig gewesen. Sie hatte ihre Schlüssel aus gutem Grund nicht hergeben wollen, und jetzt machte sie sich Vorwürfe, weil sie nicht auf ihre innere Stimme gehört hatte.
Es ließ sich nicht beweisen, dass es bei der Beerdigung passiert war, und selbst wenn, wer würde die Verantwortung übernehmen? Nicht der Parkservice. Bestimmt schützte sich die Firma mit einer Klausel auf ihren Abholscheinen, die besagte, dass man ihren Leuten den Wagen auf eigene Gefahr anvertraute. Und man stelle sich vor - sie hatte ihnen auch noch ein Trinkgeld gegeben.
«Früher oder später musste so was passieren», sagte Kenneth, eine Ansicht, die sie nicht teilte und doch nicht logisch widerlegen konnte. Als Bostoner waren er und Lisa Schrammen am Auto gewohnt; das gehörte zum Fahren in der Großstadt dazu. Sie würden nie auf die Idee gekommen,
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