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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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schöner. Soll ich welche bestellen?»
    «Bitte», sagte Emily. «Sag einfach Bescheid, wie viel ich dir schulde.»
    «Irgendwelche Wünsche, was die Vase betrifft?»
    «Ich vertraue deinem Urteil. Irgendwas Schlichtes.»
    «Verstanden», sagte Arlene.
    Normalerweise hätte ein Anruf zu dieser Tageszeit sie gestört. Doch so fassungs- und orientierungslos, wie Emily im Augenblick war, wollte sie nicht auflegen, gab Arlene aber schließlich frei.
    Arme Edie. Durch den Verlust von Louise kannte Emily die wüstenhafte Leere, der sich Edie gegenübersah, und ihr wurde schmerzlich bewusst, dass auch sie völlig allein wäre, wenn sie Arlene nicht hätte. Hatte sie deshalb weiterreden wollen, um zu sagen, dass sie ihre Gesellschaft trotz all ihrer Streitigkeiten zu schätzen wusste, oder machte der Tod sie rührselig? Sie war mit Lorraine nicht so eng befreundet gewesen.
    Am nächsten Tag erschien in der Post-Gazette Lorraines Nachruf, gekrönt von einem weichgezeichneten Foto aus einer anderen Zeit: ein dunkelhaariges Mädchen Anfang zwanzig mit Grübchen, das ein spitzes Käppi trug. In ihrer Kindheit im Krieg hatte Emily die WACS und die WAVES beneidet, die Strickleitern erklommen, unter Stacheldraht hindurchrobbten und mit ihren GI-Kameraden an Bord den Lindy Hop tanzten. Von ihrem Platz im obersten Rang des Penn Royal war sie wie Ann Sheridan zu exotischen Häfen gefahren und in undurchsichtige Intrigen verstrickt worden. Mit ihrem fotografischen Gedächtnis und ihrer Freude an Kryptogrammen hatte sie geglaubt, sie würde eine gute Spionin abgeben, und hatte vorgehabt, sich zum Militär zu melden, wenn sie alt genug war, aber natürlich war es, wie bei so vielen ihrer stellvertretenden Leben, nie dazu gekommen, und jetzt - zu spät - zu entdecken, dass Lorraine tatsächlich gewesen war, wovon Emily nur vergeblich geträumt hatte, war demütigend. Wie hatte ihr das entgehen können?
    Emily las die lange Spalte sorgfältig durch und erfuhr, dass Lorraine erst achtundachtzig gewesen war und in Albany geboren wurde. Im Krieg war sie in der Marinewerft in Hampton Roads, Virginia, stationiert gewesen. Nach ihrer ehrenvollen Entlassung war sie Buchprüferin gewesen, hatte später bei der Sozialversicherung in Dravo gearbeitet, wo sie ihren Mann Edgar kennenlernte, und war 1982 nach fünfunddreißigjähriger Dienstzeit in den Ruhestand getreten. Sie hatte gern Decken genäht, in Kreuzstich gestickt und andere Handarbeiten verrichtet und vieles davon der Neugeborenenstation der Universitätsklinik in Oakland gespendet. Sie hatte nicht nur Edgar, sondern auch ihre fünf Schwestern überlebt.
    Emily hatte oft von Edgar gehört und Fotos von Lorraines Kindern, Enkeln und Urenkeln gesehen, hatte aber nicht die geringste Ahnung von dieser anderen Seite Lorraines - zum Beispiel, dass sie Decken genäht hatte - und fragte sich nun, ob sie sie überhaupt gekannt hatte. Emily hatte ihre eigene Vorgeschichte niemandem außer Henry und vielleicht Louise anvertraut, aber sie hatte ihre Vergangenheit auch nie interessant gefunden. Wie Kersey war es etwas, das man abschütteln musste. Sie war zur Grundschule gegangen, sie war zur Highschool gegangen, sie war aufs College gegangen. Sie stellte sich vor, wie Freunde aus dem Club ihren Nachruf studierten. Was war an ihrem Leben schon überraschend?
    «Ich glaube, ich hab das alles gewusst», sagte Arlene. «Sie hat Uniformen ausgegeben oder so was. Unglaublich, dass sie dieses Foto verwendet haben. Wenn ich sterbe, musst du mir versprechen, dass du eins nimmst, das nach mir aussieht. Kenneth muss welche haben.»
    «In Ordnung.»
    «Ich hab von Peggy gehört, dass sie im Schlaf gestorben ist.»
    «So ist es am besten.» Weder Henry noch Louise waren im Schlaf gestorben, und unerklärlicherweise war Emily neidisch, als sei ihnen diese letzte Gnade verweigert worden. Louise war - kaum zu glauben - inzwischen schon fast ein Jahr tot. Emily konnte sich nur ihre Stimme ins Gedächtnis rufen, und wie sie sich damenhaft seitlich auf die Sofakante gesetzt hatte, der Rock glatt gestrichen, die Knie zusammen, um mit einem Zahnstocher eine Olive aufzuspießen oder ihnen noch ein Glas Wein einzuschenken. Sie musste ihr und Doug wirklich einen Besuch abstatten, doch auch an Henrys Grab oder dem ihrer Eltern war sie schon eine Ewigkeit nicht mehr gewesen. Wenn sich das Wetter besserte, würde sie sich einen Tag Zeit nehmen und nach Kersey fahren. Vielleicht war es das letzte Mal.
    Als sie vorn aus dem

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