Emily, allein
Lebensregeln weiterzugeben, ignorant und realitätsfremd. Auf jeden mütterlichen Rat, den sie gab, reagierte Lisa mit einer Äußerung aus ihrem Freundeskreis, wo alle auf Kinderbetreuung angewiesen waren, da sie ganztags arbeiteten. Emily hielt es nur für vernünftig, diese Sichtweise in Frage zu stellen und sich dafür auszusprechen, dass Lisa zu Hause blieb, bis Ella zumindest drei oder vier war, ein Vorschlag, der mehrfach auf herablassendes Schweigen gestoßen war.
Aus Generationsgründen versuchte Emily, an Lisas Mutter zu appellieren, doch Mrs. Sanner hatte selbst auf Kindermädchen zurückgegriffen und stand auf Lisas Seite. Geboren am North Shore, gehörte Ginny Sanner feineren Kreisen an, als Emily sie je angestrebt hatte, der Welt von Privatschulen und Segelunterricht auf Martha’s Vineyard. Es gab nichts, was Emily deren Tochter beibringen konnte, das heißt nichts Brauchbares, es sei denn, man bezog die altmodischen Prinzipien von Sparsamkeit und grundlegender Etikette mit ein, die nur in Orten wie Kersey geschätzt wurden.
Emily redete sich gern ein, dass sie von Lisa nichts brauchte, und doch besaß Lisa das absolute Machtmittel über sie - die Fähigkeit, ihr Zeit mit Kenneth und den Enkelkindern vorzuenthalten. Margaret wusste selbst in den schlimmsten Zeiten, dass die Familie wichtiger war als ihre persönlichen Kämpfe. Lisa kannte keine derartigen Gewissensbisse. Thanksgiving war dafür typisch gewesen. Wohlwissend, dass Emily nicht genug Zeit bleiben würde, alles zu regeln, hatte Lisa sie verspätet nach Cape Cod eingeladen und sie und Arlene dazu verurteilt, mit dem Buffet im Club vorliebzunehmen.
Das war nicht die erste Pro-forma-Einladung gewesen, durchschaubar für alle Beteiligten. Bei jedem Problem zwischen ihnen - ungerechterweise durch Kenneths Vermittlung zurechtgebogen - waren Berechnung und Täuschung im Spiel, und Emily befürchtete, das hier sei nur ein weiteres Beispiel. Lisa war keine richtige Lehrkraft, sondern nur Beratungslehrerin. Wie schwer konnte es da sein, einen Tag freizunehmen?
Kenneth sagte, das Problem sei, dass sie ihre letzten Urlaubstage für die Florida-Reise anlässlich ihrer Silberhochzeit aufgebraucht habe und ihr Rektor sie wegen eines verlängerten Wochenendes nicht krankmachen lassen wolle.
«Und wenn sie tatsächlich krank wäre?», fragte Emily.
«Das wäre zu offensichtlich.»
«Aber ihr drei wollt immer noch kommen?»
«Ja, wollen wir.»
Dieses hart erkämpfte Zugeständnis hätte eigentlich ein Sieg sein müssen - ihr hätte schon gereicht, wenn Ella allein gekommen wäre -, und doch fühlte sich Emily betrogen, als hätte Lisa sie wieder einmal öffentlich beleidigt.
Warum ärgerte sie sich darüber? Sie wollte Lisa wirklich nicht sehen, hatte ihr nicht das Geringste zu sagen. Ohne sie würde der Besuch reibungsloser verlaufen. Es ging bloß um Stolz.
«Sie beide passen perfekt zusammen», sagte Betty bei einem Teller Milanos. «Erlauben Sie mal, ich habe mit ihr nichts gemeinsam.»
«Wetten, dass sie dasselbe sagt?»
«Was soll das heißen?»
«Nichts, Emily. Bloß dass das zwischen Ihnen beiden nichts Neues ist. Dafür hätte ich nicht genug Energie. Das ist wie bei mir und Jesse. Nicht dass wir im Alter umgänglicher würden, wir sind bloß zu müde, um uns die ganze Zeit zu streiten.»
«Wir streiten uns nicht die ganze Zeit.»
«Nur wenn Sie zusammen sind.»
«Stimmt ja gar nicht», beteuerte Emily, als wäre es ein Scherz, doch später, als sie in Kenneths Zimmer das Bett machte, wurde ihr klar, dass es genau genommen aus einem anderen, schlimmeren Grund nicht stimmte. Sie und Lisa mussten nicht mal am selben Ort sein, um sich zu streiten. Von Angesicht zu Angesicht gab es nur selten eine Auseinandersetzung, und am Telefon sprachen sie absichtlich kaum miteinander. Nein, zurzeit genügte es bereits, wenn Emily an sie dachte.
Neugierig
Ella war schon immer ihr Lieblingsenkelkind. Schlank und auf Bücher versessen, erinnerte sie Emily an ihr jüngeres Ich, ein Urteil, das sich nur unwesentlich geändert hatte, als Ella während ihres ersten Semesters in Wellesley erklärte, sie sei schon immer lesbisch gewesen. Kenneth hatte es Emily mitgeteilt und scherzhaft gesagt, er und Lisa seien nicht gerade geschockt, als hätten Emily, die geschockt war, die Anhaltspunkte eigentlich auffallen müssen.
Emily wusste nicht genau, was für Anhaltspunkte das sein sollten. Verglichen mit Sarah, die von Margaret und ihr selbst die
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