Emily, allein
gerade Nase und die hohen Wangenknochen geerbt hatte, war Ella unscheinbar, hatte wie Lisa ein leichtes Mondgesicht und ein fliehendes Kinn, ohne unattraktiv zu sein. Sie hatte Grübchen und ein schönes Lächeln, und ihre langgliedrige, schmale Figur war perfekt geeignet für Abendkleider. Sie hatte einen nicht allzu strengen Kurzhaarschnitt. Sie war kein Wildfang wie die paar Mädchen, die Emily in ihrer Jugend gekannt hatte, sondern schüchtern und klug. Dass Ella nicht mit Jungen befreundet war, hatte Emily nie bekümmert, sie hatte es nicht auf mangelnde Attraktivität oder fehlendes Verlangen zurückgeführt, sondern auf ihre Ernsthaftigkeit und ihren anspruchsvollen Geschmack. Im Nachhinein war Emily sich nicht sicher, ob sie getäuscht worden war oder sich selbst etwas vorgemacht hatte.
Ella Bella mit Gesella?, hatte Emily sie immer geneckt, und vermutlich hatte sie einfach angenommen, dass es irgendwann einen Freund geben werde. In ihrem stellvertretenden Stolz hatte sie dieselben Meilensteine vorhergesehen, die sie selbst glücklicherweise erreicht hatte: Ehe, Kinder, Enkel. Nicht dass Ella all das nicht haben konnte - die Zeiten hatten sich geändert, es gab unendlich viele Familienvarianten -, doch obwohl Emily hoch und heilig schwor, Ella zu unterstützen, musste sie zugeben, dass die Enthüllung sie traurig gestimmt hatte, als wäre das Leben für Ella plötzlich schwerer geworden und Emily könnte nichts tun, um sie davor zu schützen.
Anfangs hatte Emily halb in Erwägung gezogen, diese hartnäckige, theatralische Haltung sei nur eine Phase, wie Margarets häufige Versuche, sie zu schockieren, oder ihre eigene übereifrige Ablehnung von Kersey. In ihrer Studentinnenvereinigung war es üblich gewesen, Bindungen einzugehen, die genauso stark - wenn nicht stärker - waren wie die flüchtigen Romanzen mit Männern, die das Verbindungshaus wie ferne, geheimnisvolle Planeten umkreisten, kurzen, erdbebenartigen Kontakt knüpften und dann ohne Erklärung wieder verschwanden. Frauen würden stets verständnisvoller sein, ihre Gefühle füreinander auf jeden Fall tiefgehender, komplizierter. Vielleicht hatte Ella, die nie besonders kontaktfreudig war, die ruhigere, verlässlichere freundschaftliche Zuneigung mit Liebe verwechselt. Emily fragte sich, welche Art von Zärtlichkeit Ella angesprochen und dann überzeugt hatte, und wann das geschehen war, doch im Laufe der Zeit wurden diese Fragen immer überflüssiger, bis Emily begriff, dass all das (zumindest Lisa) unangenehm sein könnte, und es dabei bewenden ließ.
Ella und Suzanne waren schon fast ein Jahr zusammen. Sie teilten sich mit einem Scottie, den sie Jack Sparrow genannt hatten, eine Einzimmerwohnung in Somerville. Suzanne machte in Tufts ihren Doktor in Umwelttechnik. Emily hatte Fotos von ihr gesehen - eine hagere Blondine mit Pferdeschwanz und dem Körper einer Marathonläuferin, die immer Windjacke und Sportsonnenbrille für irgendeine Outdoor-Aktivität trug -, hatte sie aber noch nicht persönlich kennengelernt.
Obwohl sich Emily für die häuslichen Verhältnisse all ihrer Enkelkinder stark interessierte - genauso wie für ihr Wohlergehen und Glück -, zog sie bei ihrem Intimleben die Grenze. Sie mochte sich Sarah und ihren Verehrer Max bei einem Glas Wein in einem kerzenerleuchteten Restaurant vorstellen oder beim Küssen auf einem Balkon mit Blick über den Lake Michigan, doch weiter folgte ihnen Emilys von einem feinfühligen Zensor kontrollierte Phantasie nicht. Das Liebesleben der Jungen mit ihren verschiedenen Freundinnen, das vermutlich ähnlich ablief und aus den üblichen Ekstasen der Jugend bestand, interessierte sie nicht. Und obwohl sie wünschte, dieses schickliche Verhalten würde sich auch auf Ella und Suzanne erstrecken, klappte das nicht.
Ohne es zu wollen, stellte sie sich die beiden in den unpassendsten Momenten (wenn sie mit Arlene über sie sprach oder mit Kenneth telefonierte) plötzlich im Bett vor - nicht im entferntesten pornographisch, geschweige denn in flagranti, bloß die beiden nebeneinanderliegend, manchmal lesend, wie jedes andere Paar sich Decke und Kissen teilend. Dieser sinnlose Voyeurismus beunruhigte sie, da er ein Zeichen für ihre anhaltende Verwirrung und Neugier bezüglich Ellas sexueller Orientierung war. Jedes Mal, wenn Emilys Gedanken zur Schlafzimmertür schweiften, versuchte sie sich daran zu erinnern, was für ein freundliches, hilfsbereites Kind Ella gewesen war, das voller Stolz Garn
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