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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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gehalten oder Handtücher gefaltet hatte, und welche Freude ihr Ellas Gesellschaft bereitet hatte, weil sie seelenverwandt waren. Damals hatte sie sich unfairerweise oft vorgestellt, wie sehr es ihr Leben erleichtert hätte, wenn Ella ihre Tochter gewesen wäre. Dachte sie immer noch so?
    Allein dass sie sich diese Frage stellte, machte ihr Sorgen. Sie hielt sich für tolerant und weltoffen, als hätte sie mit ihrem Abschied von Kersey der dortigen Engstirnigkeit entkommen können. In ihrer Kindheit hatten die Italiener und Schweden auf der falschen Seite der Bahngleise gewohnt und nicht nur als arm und schmutzig gegolten, sondern sich auch wie die Kaninchen vermehrt. Bis weit in die achtziger Jahre hatte ihre Großmutter Benton das Wort «Neger» benutzt und die Rassenklischees aus ihrer Jugend nachgeplappert. Ihre eigene Mutter, eine engagierte Lehrerin und stolze Frauenrechtlerin, hatte die Angewohnheit gehabt, Namen aus der Zeitung vorzulesen und zu fragen: «Ist der jüdisch?» Henry und die Kinder waren ziemlich entsetzt gewesen. Emily, die das Klima kannte, das solche Ignoranz hervorbrachte, war zugleich nachsichtiger und resignierter gewesen. Von der Welt abgeschnitten und verbohrt, waren die beiden nur Opfer ihrer Zeit gewesen. So traurig es auch war, außer dem Tod konnte nichts ihre Ansichten ändern. Emily befürchtete, dass es sich in diesem Fall genauso verhalten könnte, dass sie irgendwie, unbewusst, gegen ihren Willen, ein fest verwurzeltes Vorurteil gegen einen geliebten Menschen hegte, und aus Angst, Ella könnte das herausfinden und ihre Beziehung sich für immer verändern, neigte Emily zur Überkompensation, so wie jetzt, wo sie die zur Tür hereinkommende Ella fast in ihrer Umarmung erdrückte und sie zu lange festhielt. Rufus hüpfte bellend um die beiden herum, als würde Emily angegriffen.
    Selbst in ihrer unförmigen alten Matrosenjacke war Ella gertenschlank, die Handgelenke knochig - genau wie bei Emily in jenem Alter.
    «Sieh dich nur an», sagte Emily. «Du wirst ja immer dünner.»
    «Stimmt doch gar nicht.»
    «Platz! War nur Spaß, du siehst gut aus. Und glücklich.»
    «Hey, Grammy», sagte Sam und fasste sie nur leicht an den Schultern, als sei sie zerbrechlich.
    «Hi, Mom», sagte Kenneth und stellte seine Tasche ab, um sie auf die Wange zu küssen. Im Wagen war noch mehr Gepäck, und Sam und Kenneth gingen es holen.
    «Und», sagte Emily, während sie Ellas Jacke aufhängte, «wie geht’s Suzanne?»
    «Gut.»
    «Ich wünschte, sie hätte mitkommen können.»
    «Ihr Dad wird operiert, und sie wollte ihrer Mom zuliebe unbedingt dort sein.»
    «Tut mir wirklich leid.»
    «Ist schon okay, ist nichts Größeres.»
    «Wie alt ist er denn?»
    «Älter als Dad.»
    «In dem Alter ist alles etwas Größeres», widersprach Emily. «Richte ihr bitte aus, dass wir an sie denken.»
    «Mach ich.»
    «Wie geht’s Captain Jack?»
    «Gut.»
    «Schön.»
    Emily strahlte, überwältigt von Ellas Auftreten. Emily hatte ihr so viel zu erzählen, doch ihr Kopf, vor wenigen Augenblicken noch voller Gedanken, war plötzlich leer. Als ihre Phantasie in der Wohnung, die sie nie zu Gesicht bekommen würde, in den Flur bog, streckte sie in panischer Angst die Hände aus und nahm Ella wieder in die Arme. «Meine Ella Bella.»
    «Grammy, ist alles in Ordnung?»
    «Ich freue mich bloß so, dass du kommen konntest. Ich hab das Gefühl, als hätte ich dich eine Ewigkeit nicht gesehen. Komm, setz dich», sagte sie und klopfte auf das Sofa. «Du musst mir alles von dir erzählen.»
     
    Der Erwachsenentisch
     
    Vielleicht war es Nostalgie oder auch nur die Widerspenstigkeit der Erinnerung, doch sie konnte die erwachsene Variante der Kinder nicht von den Kindern trennen, die sie einmal gewesen waren. Margaret verdrehte schon seit fast vierzig Jahren den Männern die Köpfe - manchmal mit furchtbarem Ergebnis -, und doch würde sie immer die pummelige, mürrische Drittklässlerin bleiben, die in ihrem Zimmer Süßigkeiten versteckte. Justin, der angehende Astrophysiker, würde für immer der überempfindliche Junge sein, der in Tränen ausbrach, weil er das falsche Spülmittel in die Geschirrspülmaschine gefüllt hatte. Da Emily auf ihr eigenes früheres Ich nicht besonders stolz war, begriff sie, dass es ungerecht war, ihnen diese alten Rollen überzustülpen, und bemühte sich, über ihre neuen Aktivitäten auf dem Laufenden zu bleiben und ihre jüngsten Triumphe zu feiern.
    In Sams Fall war das schwierig. Er

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