Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe)
nicht der Fall war, sondern nur in meiner Einbildung in jener schrecklichen Nacht; aber damals hielt ich Heathcliff für weniger schuldig als mich.
Um sieben Uhr kam er und fragte, ob Miss Linton aufgestanden sei. Sie lief augenblicklich zur Tür und antwortete: »Ja.«
»Dann komm«, sagte er, indem er öffnete und sie hinauszog. Ich wollte ihr folgen, aber er drehte den Schlüssel wieder um. Ich forderte meine Freilassung.
»Gedulde dich«, entgegnete er, »ich werde dir das Frühstück bald heraufschicken.«
Ich hämmerte gegen die Türfüllung und rüttelte ärgerlich an der Klinke, und Catherine fragte, warum ich immer noch eingeschlossen sei. Heathcliff antwortete, ich müsse es schon noch eine Stunde aushalten, und dann entfernten sie sich. Ich ertrug es zwei oder drei Stunden; endlich vernahm ich Schritte, aber nicht die Heathcliffs.
»Ich habe dir was zu essen gebracht«, sagte eine Stimme, »mach die Tür auf.«
Ich gehorchte eilig und gewahrte Hareton, der mit so viel Essvorräten beladen war, als sollte ich den ganzen Tag davon leben.
»Nimm’s!« fügte er hinzu und drückte mir das Tablett in die Hände.
»Bleib eine Minute!« sagte ich.
»Nee!« schrie er und verschwand, ungeachtet meiner inständigen Bitten, die ihn zum Bleiben veranlassen sollten. Und da blieb ich nun eingeschlossen den ganzen Tag und die ganze folgende Nacht und noch eine und noch eine. Fünf Nächte und fünf Tage blieb ich im ganzen dort und sah niemanden als jeden Morgen Hareton, der ein vorbildlicher Gefangenenwärter war: verdrossen und stumm und taub gegen alle Versuche, seinen Gerechtigkeitssinn oder sein Mitleid zu wecken.
Achtundzwanzigstes Kapitel
AM FÜNFTEN MORGEN — oder vielmehr am Nachmittag dieses Tages — näherte sich ein anderer Schritt, ein leichterer, kürzerer, und diesmal trat jemand ins Zimmer. Es war Zillah, in ihren scharlachroten Schal gewickelt, eine schwarze Seidenhaube auf dem Kopf; sie hatte einen Weidenkorb am Arm hängen.
»Du meine Güte, Mrs. Dean!« rief sie aus. »Es geht ein Gerücht über Sie um in Gimmerton. Ich glaubte nicht anders, als dass sie im Blackhorse-Moor versunken seien, und das kleine Fräulein mit Ihnen, bis der Herr mir sagte, dass man Sie gefunden und dass er Sie hier einquartiert habe. Na, da sind Sie wohl auf eine Insel geraten? Wie lange haben Sie denn in dem Loch gesteckt? Hat der Herr Sie gerettet, Mrs. Dean? Aber Sie sehen gar nicht elend aus, es ist Ihnen wohl gar nicht so schlecht gegangen, was?«
»Dein Herr ist ein ausgemachter Schurke«, antwortete ich, »aber er soll dafür büssen! Er hätte dieses Märchen nicht zu verbreiten brauchen, die Wahrheit wird doch herauskommen.«
»Was meinen Sie damit?« fragte Zillah. »Er hat das nicht erzählt, im Dorf reden sie darüber, Sie hätten sich im Moor verirrt. Und ich gehe zu Earnshaw, als ich zurückkomme, und sage: ›Seltsame Sachen sind da geschehen, Mr. Hareton, seit ich fortging. Schade um das hübsche junge Ding und die muntere Nelly Dean!‹ Der starrt mich an. Ich dachte, er hätte nicht zugehört, und erzähle ihm von dem Gerücht. Der Herr hört es auch und lächelt in sich hinein und sagt: ›Wenn sie im Moor gewesen sind, dann sind sie wieder herausgekommen, Zillah. Nelly Dean ist zur Zeit in deinem Zimmer untergebracht. Du kannst ihr sagen, dass sie gehen kann, wenn du hinaufkommst; hier ist der Schlüssel. Das Sumpfwasser ist ihr in den Kopf gestiegen; sie wäre ganz verstört nach Hause gelaufen, aber ich habe sie festgesetzt, bis sie wieder zur Besinnung gekommen ist. Du kannst sie gleich nach Thrushcross Grange hinunterschicken, wenn sie gehen kann; sie soll von mir ausrichten, ihre Herrin käme rechtzeitig hinunter, um dem Begräbnis des Gutsherrn beizuwohnen.‹«
»Mr. Edgar ist doch nicht etwa tot?« keuchte ich. »O Zillah, Zillah!«
»Nein, nein; setzen Sie sich, meine Liebe, Sie sind immer noch ganz schwach. Er ist nicht tot. Doktor Kenneth glaubt, dass er noch einen Tag leben kann; ich habe ihn auf der Straße getroffen und gefragt.«
Statt mich hinzusetzen, raffte ich meine Überkleider zusammen und eilte hinunter, denn der Weg war frei. Unten im ›Haus‹ sah ich mich nach jemand um, der mir über Catherine hätte Bescheid sagen können. Der Raum lag im Sonnenschein, und die Tür stand weit offen, aber es schien niemand in der Nähe zu sein. Als ich überlegte, ob ich gleich fortgehen sollte oder umkehren und meine Herrin suchen, lenkte ein leises Husten meine
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