Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe)
wird er ein Idiot werden! Oh, ich wundere mich, dass seine Mutter nicht aus dem Grabe steigt, um zu sehen, wie Sie ihm mitspielen. Sie sind schlimmer als ein Heide! Ihr eigenes Fleisch und Blut so zu behandeln!«
Er versuchte das Kind anzufassen, das auf meinem Arm seinem Schrecken schluchzend Luft machte. Kaum jedoch berührte es sein Vater mit einem Finger, kreischte es wieder, lauter als zuvor, und sträubte sich, als wenn es Krämpfe kriegen wollte.
»Lassen Sie ihn in Ruhe!« fuhr ich fort. »Er hasst Sie! Alle hassen Sie, das ist die reine Wahrheit! Eine glückliche Familie haben Sie, und in eine schöne Lage haben Sie sich gebracht!«
»Das wird noch besser kommen, Nelly!« lachte der heruntergekommene Mann, schon wieder ganz in seiner heftigen Art. »Jetzt geh mir aus den Augen mit ihm. Und höre du, Heathcliff, bleib aus meiner Reich- und Hörweite! Ich möchte dir heute nacht nichts antun, es sei denn, dass ich das Haus in Brand stecke; aber das hängt von meiner Laune ab.«
Mit diesen Worten nahm er eine Halbliterflasche mit Branntwein von der Anrichte und goss etwas davon in ein Glas.
»Nein, nicht!« flehte ich. »Mr. Hindley, lassen Sie sich warnen. Erbarmen Sie sich dieses unglücklichen Kindes, wenn Ihnen nichts an Ihnen selbst liegt!«
»Jeder andere wird ihm mehr nützen als ich«, antwortete er.
»Haben Sie Erbarmen mit ihrer eigenen Seele!« sagte ich und bemühte mich, ihm das Glas aus der Hand zu winden. »Ich nicht! Im Gegenteil, ich wüsste nichts Besseres, als sie in die Verdammnis zu schicken, um ihren Schöpfer zu strafen!« rief der Gotteslästerer. »Es lebe die Verdammnis!«
Er trank den Branntwein, forderte uns ungeduldig auf, zu gehen, und beschloss seine Rede mit den schrecklichsten Verwünschungen, zu schlimm, als dass man sie wiederholen könnte oder sich ihrer erinnern möchte.
»Es ist ein Jammer, dass er sich nicht zu Tode trinken kann!« bemerkte Heathcliff mit einem Echo von Flüchen, als die Tür sich hinter uns geschlossen hatte. »Er tut, was er kann, aber seine Bärennatur ist stärker. Mr. Kenneth sagt, er will seine Stute darauf verwetten, dass er alle Männer auf dieser Seite von Gimmerton überlebt und als grauköpfiger Sünder ins Grab sinkt, es sei denn, dass ihm durch einen glücklichen Zufall ausser der Reihe etwas zustiesse.«
Ich ging in die Küche und setzte mich hin, um mein Lämmchen in Schlaf zu lullen. Heathcliff ging weiter nach der Scheune. Später stellte es sich heraus, dass er nur bis ans andere Ende des Raumes gegangen war, sich dort, weitab vom Feuer, auf eine Bank an der Wand geworfen hatte und unbeweglich sitzen blieb.
Ich wiegte Hareton auf den Knien und summte ein Lied, das folgendermaßen begann:
Die Kinder schrien, es war spät in der Nacht;
im Grab hört’s die Mutter und ist erwacht…
als Miss Cathy, die den Lärm von ihrem Zimmer aus gehört hatte, den Kopf hereinsteckte und flüsterte: »Bist du allein, Nelly?«
»Ja, Miss!« antwortete ich.
Sie trat ein und näherte sich dem Herd. Ich blickte auf, denn ich dachte, sie wolle mir etwas sagen. Ihr Gesicht war verstört und unruhig. Ihre Lippen waren halb geöffnet, als ob sie sprechen wollte, und sie holte Luft; doch kam nur ein Seufzer, kein Satz. Ich nahm meinen Gesang wieder auf, denn ich hatte ihr Betragen von vorhin noch nicht vergessen.
»Wo ist Heathcliff?« sagte sie, mich unterbrechend.
»Bei seiner Arbeit im Stall«, war meine Antwort.
Er widersprach mir nicht; vielleicht war er eingeschlummert. Wieder folgte eine lange Pause, während der ich wahrnahm, dass ein oder zwei Tropfen von Catherines Wange auf die Fliesen hinabrollten. ›Tut ihr schändliches Betragen ihr leid?‹ fragte ich mich. ›Das wäre etwas Neues. Aber sie soll nur selber davon anfangen, ich werde ihr nicht helfen!‹ Nein, sie machte sich wenig Sorgen um andere Dinge, nur um das, was sie selbst anging.
»O Liebe!« rief sie endlich. »Ich bin sehr unglücklich!«
»Schade«, bemerkte ich. »Sie sind schwer zufriedenzustellen; da haben Sie nun so viele Freunde und so wenig Sorgen, und doch ist Ihnen das nicht genug.«
»Nelly, willst du ein Geheimnis für mich bewahren?« fuhr sie fort, kniete neben mir nieder und schlug ihre lieblichen Augen zu mir auf, mit einem Blick, der imstande war, den ärgsten Groll zu verscheuchen, selbst wenn man noch soviel Anlass dazu gehabt hätte.
»Ist es wert, bewahrt zu werden?« fragte ich, weniger abweisend.
»Ja, und es quält mich, und ich muss es dir
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