Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe)
Recht zu verschaffen, weil er keinen Freund besitzt und gar nicht weiss, dass ihm Unrecht geschehen ist.
Achtzehntes Kapitel
DIE ZWÖLF JAHRE, die dieser trüben Zeit folgten, fuhr Mrs. Dean fort, waren die glücklichsten meines Lebens. Meine grössten Sorgen drehten sich in jenen Tagen um die Kinderkrankheiten unseres kleinen Fräuleins, die sie, wie alle Kinder, ob arm oder reich, durchmachen musste. Im übrigen wuchs und gedieh sie nach dem ersten halben Jahr zusehends und konnte gehen und auch auf ihre Weise sprechen, bevor das Heidekraut zum zweiten Mal auf Mrs. Lintons Grab blühte. Das kleine Ding hatte ein so gewinnendes Wesen, dass es Sonnenschein in das vereinsamte Haus brachte. Sie war eine richtige kleine Schönheit, mit den wundervollen dunklen Augen der Earnshaws, aber der hellen Haut, den feinen Zügen und den blonden Locken der Lintons. Sie war lebhaft, ohne stürmisch zu sein, und hatte ein empfindsames Herz, das, wenn es liebte, zum Überschwang neigte. Diese Fähigkeit, heftige Zuneigungen zu fassen, erinnerte mich an ihre Mutter, und doch ähnelte sie ihr nicht; denn sie konnte sanft und mild sein wie eine Taube, und sie hatte eine weiche Stimme und einen nachdenklichen Ausdruck; ihr Ärger steigerte sich nie zu Wut, ihre Liebe war nie wild, sondern tief und voll Zärtlichkeit. Dennoch darf man nicht verschweigen, dass sie Fehler hatte, die ihre guten Anlagen in den Schatten stellten. Da war einmal ihr Hang, vorlaut zu sein, sodann ihr Eigensinn, wie ihn verzogene Kinder sich ausnahmslos angewöhnen, einerlei, ob sie gutartig oder boshaft sind. Wenn es vorkam, dass einer von den Leuten sie ärgerte, hiess es gleich: »Ich werde es Papa sagen!« Wenn ihr Vater sie rügte, und sei es auch nur durch einen Blick, so hätte man meinen können, das Herz wolle ihr brechen; ich glaube, er hat ihr nie ein hartes Wort gesagt. Er nahm ihre Erziehung ausschließlich in seine Hand und machte sich ein Vergnügen daraus. Glücklicherweise war sie dank ihrer Wissbegier und schnellen Auffassungsgabe eine gute Schülerin; sie lernte sehr schnell und eifrig und wusste seinen Unterricht zu schätzen.
Bis zu ihrem dreizehnten Jahr war sie nicht ein einziges Mal allein aus dem Bereich des Parkes hinausgekommen. Ganz selten pflegte Mr. Linton sie etwa eine Meile weit mit sich hinauszunehmen, doch vertraute er sie niemandem anders an. Gimmerton war für ihre Ohren ein Name, mit dem sie keinen Begriff verband, die Kapelle das einzige Gebäude, in dessen Nähe sie gekommen war und das sie betreten hatte, ihr eigenes Heim ausgenommen. Wuthering Heights und Mr. Heathcliff waren für sie nicht vorhanden. Sie war ein richtiger Einsiedler und allem Anschein nach bei diesem Leben vollkommen glücklich.
Manchmal allerdings, wenn sie vom Kinderzimmerfenster aus die Landschaft betrachtete, meinte sie: »Ellen, wie lange wird es noch dauern, bis ich auf die Berge dort steigen kann? Ich möchte wissen, was auf der anderen Seite liegt. Ist es die See?«
»Nein, Miss Cathy«, antwortete ich dann wohl, »es sind wieder Berge wie diese hier.«
»Und wie sehen die goldenen Felsen dort aus, wenn man darunter steht?« fragte sie eines Tages.
Der steile Abhang der Felsenklippe von Penistone fesselte ihre Aufmerksamkeit ganz besonders, zumal, wenn die untergehende Sonne darauf schien und die höchsten Berggipfel anstrahlte, während die ganze übrige Landschaft schon im Schatten lag. Ich erklärte ihr, dass es kahle Felsmassen seien, die kaum genug Erde in ihren Spalten hätten, einen kümmerlichen Baum zu ernähren.
»Und warum leuchten sie noch so lange, wenn es hier schon Abend ist?« fuhr sie fort.
»Weil sie ein gut Teil höher liegen als wir«, erwiderte ich. »Sie könnten nicht da hinaufsteigen, es ist zu hoch und zu steil. Im Winter ist die Kälte schon lange dort, bevor sie zu uns kommt, und mitten im Sommer habe ich in der schwarzen Schlucht an der Nordostseite noch Schnee gefunden.«
»Oh, du bist schon oben gewesen!« rief sie erfreut. »Dann kann ich auch hingehen, wenn ich groß bin. War Papa oben, Ellen?«
»Papa würde Ihnen sagen«, antwortete ich hastig, »dass es nicht der Mühe wert ist, hinzugehen. Das Heidemoor, das Sie mit ihm durchstreifen, ist viel hübscher, und unser Park ist der schönste Ort der Welt.«
»Aber den Park kenne ich und das dort nicht«, murmelte sie vor sich hin. »Und ich möchte so gern vom Rande der höchsten Kuppe aus um mich blicken; mein Pony Minny soll mich einmal
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