Emma und der Rebell
natürlich«, erwiderte sie.
»Mary war viel jünger; sie war mit Dirk und Steven befreundet.«
»Hat sie
Angehörige hinterlassen? Oder Freunde?«
»Ihren
Vater, Jessup. Aber er starb vor zwei Jahren an einem Herzleiden.« Wieder
runzelte sie die Stirn. »Ach ja, da ist noch ihre Tante Astoria ...« Lucy
verzog das Gesicht. »Eine vertrocknete alte Krähe. Ich glaube, sie hat seit
zwanzig Jahren nicht mehr das Haus verlassen.«
»Aber sie
lebte in demselben Haus wie Mary?« forschte Emma, die eine seltsame Spannung in
sich erwachen fühlte.
Lucy nickte
und warf ihrer Schwägerin einen erstaunten Blick zu. »Wieso interessierst du
dich für Astoria McCall? Ich sagte dir doch schon, daß sie langweilig ist wie
kaltes Spülwasser.«
»Ich möchte
mir ihr über den Mord an Mary reden«, erwiderte Emma, bevor sie aufstand und
verkündete: »Ich fahre in die Stadt – und ich würde mich freuen, wenn du
mitkämst.«
Lucy wirkte
noch immer erstaunt, aber sie legte ihre Serviette auf den Tisch und erhob
sich. »Tja, warum eigentlich nicht?« erwiderte sie und strich über den
schwarzen Satinrock ihres Kleides und über ihren blonden Knoten. »Meinst du, ich
sähe präsentabel aus? Astoria geht zwar nicht viel aus, aber sie ist eine
schreckliche Klatschbase.«
Emma
schenkte ihrer Schwägerin ein ermutigendes Lächeln. »Du bist die schönste Frau
in dieser Stadt«, sagte sie und dachte, daß es sogar stimmen könnte, wenn Lucy
sich anders kleiden und öfter ausgehen würde. »Alles, was Astoria über dich
sagen könnte, entspränge höchstens ihrem Neid.«
Zwanzig
Minuten später
saßen Emma und Lucy in einer der zahlreichen Kutschen der Familie, und wieder
eine halbe Stunde später stiegen sie vor einem soliden Haus aus hellen Ziegeln
aus, das einst einmal sehr gepflegt gewesen zu sein schien, aber nun
vernachlässigt und schon etwas verfallen wirkte.
Bei diesem
Anblick schauderte es Emma. »Ist hier der Mord geschehen?« fragte sie leise.
Lucy nickte
und warf einen mißbilligenden Blick auf den verwilderten Park, der das Haus
umgab. »Ja, aber damals war es noch eine prächtige Villa, in der viele Bälle
stattfanden.«
»Dann muß
die Familie einmal reich gewesen sein«, bemerkte Emma. »Was ist geschehen?«
Lucy
seufzte. »Der alte Jessup veränderte sich nach Marys Tod. Er hatte seine
Tochter sehr geliebt. Macon zufolge ging er sehr sorglos mit seinem Geld um,
und eines Tages war es ... fort.« Sie hob die Hände, wie um das letzte Wort zu
unterstreichen.
»War
Astoria nie verheiratet?« fragte Emma, die Mitleid für die Familie empfand und
Hemmungen hatte, sich als Mrs. Steven Fairfax vorzustellen.
Sie hatten
inzwischen das Haus erreicht, und Lucy betätigte den schweren Türklopfer, ohne
Emmas Frage zu beantworten.
Emma zog
den Fächer aus der Tasche, den Cyrus ihr geschenkt hatte, und fächelte sich
nervös Luft zu. Ich werde mich wohl nie an die schwüle Hitze hier gewöhnen,
dachte sie, während sie warteten.
Eine kleine
schwarze Frau mit sehr großen Zähnen und einem Tuch
über den vielen Zöpfchen, zu dem ihr Haar geflochten war, öffnete ihnen die
Tür. Aus kurzsichtigen Augen blinzelte sie zuerst Lucy an, dann Emma. »Ja?«
»Sagen Sie
Mrs. McCall bitte, daß Mrs. Macon Fairfax und Mrs. Steven Fairfax zu Besuch
gekommen sind«, erklärte Lucy in einem selbstbewußten Ton, der ihr sonstiges
seltsames Verhalten Lügen strafte. »Und lassen Sie uns nicht lange hier in der
heißen Sonne herumstehen. Beeilen Sie sich.«
Die Frau
eilte davon, und Lucy wandte sich in verschwörerischem Ton an Emma: »Mit
Farbigen muß man streng sein. Nachdem ihnen ihr Leben lang befohlen worden ist,
was sie zu tun haben, fällt es ihnen jetzt schwer, selbständig zu denken.«
Emma verbiß
sich eine scharfe Erwiderung. Dies war nicht der richtige Augenblick, sich mit
ihrer unberechenbaren Schwägerin anzulegen. Einen Moment später kam das Dienstmädchen
zurück und ließ sie ein. Ihre großen Augen wanderten ängstlich von Lucys
Gesicht zu dem von Emma, und fast schien sie vor ihnen zurückzuschrecken.
Sie wurden
in eine düstere, aber gepflegte Halle geführt und dann in einen Salon. Hier
waren die schweren Samtvorhänge zugezogen, und ein leicht modriger Geruch hing
im Raum. Emma mußte ihre Augen anstrengen, um die Frau zu erkennen, die in
einem Schaukelstuhl am Kamin saß.
»Hallo,
Astoria«, sagte Lucy heiter, als sei dies ein ganz alltäglicher Besuch in
einem ganz normalen Haus.
Miss McCall
war ziemlich
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