Emmas Story
Lus Direktheit gehasst habe.
Sie hat immer noch nicht gelernt, die Worte richtig einzusetzen. Niemand sagt zu einer Frau, dass sie wunderschön ist. Du kannst einer Frau sagen, dass sie klasse aussieht oder attraktiv ist. Aber wunderschön … nein, das geht einfach nicht!
Wunderschön sagst du vielleicht in einer intimen Situation – nach dem Sex zum Beispiel. Aber nicht einfach so, in einer Kneipe, an einem Tisch, über zwei bunte Faltsonnenschirmchen hinweg, die in unseren Orgasmen stecken.
»Obwohl ich finde, Blau würde dir noch besser stehen«, setzt Lu hinzu und sucht mit den Lippen ihren Strohhalm. Ich schaue ihr dabei zu. Sehe, wie das samtige helle Rot zwei, drei Sekunden in der Luft herumtastet, um sich dann um die kleine bunte Plastikröhre zu schließen und kurz daran zu saugen.
»Armin sagt das auch«, antworte ich da zu meinem eigenen Entsetzen. Wie kann ich nur auf so eine oberflächliche Bemerkung antworten?
»Ist er schwul?«, will Lu wissen.
Als ich nicke, nickt sie auch, selbstzufrieden.
»Was machst du sonst so, wenn du nicht an deiner Doktorarbeit schreibst? Machst du irgendeinen höllischen Sport? Du siehst verdammt danach aus.«
Sie benutzt immer noch Schimpfwörter.
Natürlich, ich lasse es mir auch nicht nehmen, in entsprechenden Situationen zu fluchen. Aber Lu tut es einfach so, ganz nebenbei, mitten in ihrem normalen Redefluss. Seit sie damals mit diesem Rotzlöffel Frank Irgendwer auf dessen Geländemaschine die Gegend unsicher gemacht hat. Die beiden waren eine Weile befreundet. Und sie hatte sich angewöhnt, genauso unflätig zu sprechen wie er. Offenbar wirkt das bis heute nach.
»Nein, kein Sport. Es ist eher … ich lese viel und gehe ins Kino, treffe Freunde, all so langweilige Sachen.«
»Klingt himmlisch! So … ruhig. Früher bist du immer so gern in Einrichtungshäuser gegangen, weißt du noch? Du konntest eine ganze Stunde in der Teppichabteilung zubringen und diese riesigen Rollen rauf und runter fahren lassen.«
Bilder vor meinem geistigen Auge. Lu und ich auf Polstermöbeln und vor Schreibtischen, in Betten und Hängematten, unter Küchenzeilen. Das ist so lange her, dass ich nie wieder daran gedacht hätte, hätte sie es jetzt nicht erwähnt. Das war beinahe ein anderes Leben.
Ich überlege einen kleinen Augenblick. Der Blick auf die große Uhr überm Tresen sagt: nicht mal zwanzig nach neun.
Also ist noch viel Zeit. Und das Schicksal hat offensichtlich tatsächlich geplant, Lu und mich noch einmal zusammenzuführen. Ich sollte meine Zurückhaltung vielleicht ein wenig fahren lassen, sonst ist Lus Vorrat an höflichen Fragen gleich zu Ende.
»In gewisser Hinsicht mach ich das immer noch«, sage ich, und es gelingt mir sogar, dabei verschmitzt zu lächeln. »Nur in etwas abgewandelter Form: Ich besichtige Wohnungen.«
Lu stutzt und lacht dann auf. »Aus Spaß? Das ist ja cool!«
Auf manche Dinge kann ich mich offenbar auch heute noch verlassen. Nämlich, dass sie kein Urteil über andere Menschen fällt. Die anderen können noch so verrückt, abgehalftert oder verbohrt sein, Lu lässt immer alle so sein, wie sie sind. Das war früher schon so. Und es hat mich zur Weißglut getrieben. Denn jeder Sonderling konnte sich problemlos an sie ranhängen. Lu kannte schon als Teenager eine Menge merkwürdiger Leute. Und mich.
Was in meinem Bekanntenkreis kaum jemand weiß – außer Armin und Hannelore natürlich –, dass ich an den Wochenenden durch fremder Leute Wohnungen spaziere, habe ich ihr gegenüber mal gerade einfach so ausgeplaudert.
»Ja, aus Spaß. Du glaubst gar nicht, was du alles zu sehen bekommst. Nicht nur die Einrichtungen. Die Menschen erzählen dir auch ihre halbe Lebensgeschichte. Heute war ich zum Beispiel in einem kleinen Appartement, das über einem Garagenhof gebaut worden ist. Du musst es so eine Wackeltreppe raufschaffen, bevor du dir überhaupt was ansehen kannst. Weißt du, diese frei schwebenden Dinger, die bei jedem Schritt vibrieren und bei denen du auch noch durch die Stufen runtergucken kannst …«
»Uuuuhhh!«, macht Lu und hält sich ihre rechte Hand vor den Mund. Die Hand ist schlank und braun gebrannt. Oder vielleicht ist es auch einfach Lus Hautfarbe, an die ich mich womöglich doch nicht mehr so gut erinnere wie an einige andere Dinge. Auf alle Fälle sieht die Hand praktisch und stark aus. Die Nägel sind kurz und unter einigen finden sich winzige dunkle Ränder. Die sind es aber nicht, die meinen Blick magnetisch
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