Emmas Story
ihr geschlossen, und sie sortiert den langen Seidenschal, den sie zum Siebzigsten von ihrer Tochter geschenkt bekommen hat, sorgfältig um ihr freies Dekolleté.
Wie kann das sein? Heute ist Freitag! Freitags hat sie immer ihre Rommé-Runde.
Sie taucht freitags nie hier im Yellow auf. Wieso ausgerechnet heute?
Noch hat sie mich nicht gesehen. Wenn ich Glück habe, hat das eitle Huhn nur die schicke neue Lesebrille auf und wird mich deswegen gar nicht ausmachen. Vorausgesetzt, ich hocke hier nicht derart auf dem Präsentierteller.
»Lu?«, zische ich meiner Gegenüber über den kleinen Tisch und unsere leeren Gläser hinweg zu. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir uns an einen anderen Tisch setzen?«
Lu sieht mich einen Moment verwundert an, hebt dann sofort den Kopf, um das Gelände zu sondieren.
»Da drüben um die Ecke wäre es am besten«, schlage ich vor und deute unauffällig hinüber.
Das Yellow ist ein hufeisenförmiger Raum, um dessen innere Biegung sich die Theke mit den deckenhohen Regalen und den darin aufgereihten Flaschen schmiegt.
Die Eingangstür liegt am rechten der beiden oberen Enden.
Wenn Lu und ich uns ganz schnell um die Ecke herum ans linke Ende verdrücken, besteht eine Chance, von Hannelore nicht entdeckt zu werden.
Leider scheint Lu jedoch die Dringlichkeit meiner Bitte nicht wirklich erfasst zu haben. Während ich, den Rücken zum Eingang gedreht, bereits unauffällig vom Tisch wegrutsche, steht sie noch da und glotzt in die Gegend.
»Du brauchst nach keinem freien Tisch zu gucken«, raune ich ihr zu und versuche, sie mit mir zu ziehen. »Um die Ecke ist immer was frei. Na komm schon!«
Lu kichert und folgt mir langsam, während sie sich immer noch umsieht.
»Ich suche doch nicht nach einem freien Tisch«, schmunzelt sie. »Ich suche nach deinem Ex.«
Ich stolpere über meine eigenen Füße.
»Meinem was?« Mit einem raschen Blick an den Tischen entlang, wo Hannelore gerade mit einem reizenden ›Hallo!‹ bei zwei älteren Frauen stehen geblieben ist, bugsiere ich Lu endlich erfolgreich um die Ecke.
»Na, wenn du so einen Aufstand machst, nachdem du einen kurzen Blick zur Tür geworfen hast, dann ist doch wahrscheinlich gerade dein Ex reingekommen.«
»Irrtum!«, brumme ich. »Es ist nur meine beste Freundin.« Ich höre selbst wie absurd das klingt.
»Aha«, macht Lu laut und grinst wie eine Comicfigur.
»Du kennst sie nicht!«, beschwöre ich sie. »Sie ist wirklich meine beste Freundin, und sie hat unglaubliches Verständnis für alle dramatischen Verwicklungen dieser Welt. Schließlich hat sie selbst schon so einige erlebt. Aber sie hat auch bestimmte Grundsätze, an denen niemand kratzen darf. Niemand, verstehst du?! Ich auch nicht. Wenn sie erfährt, dass ich auf eine Kontaktanzeige geantwortet habe, wird sie mir ein dreitägiges Plädoyer über feministische Ehre und moralischen Verfall halten. Das ist zufällig ihr Spezialgebiet.«
»Aber es war doch die Anzeige von einer Frau«, erwidert Lu.
Wir schauen uns an.
Es ist der gleiche Augenblick. Das gleiche Zögern. Der kleine, heftig aufkommende Zweifel, den ich immer in dieser Situation spüre.
Dann sage ich möglichst fest: »Das ist es ja. Ich lebe mit Frauen.«
Ich lebe mit Frauen.
Habe ich das wirklich gesagt?
Oh je, mir tun sich Abgründe auf!
Lu starrt mich an, als wäre mir kurzfristig auf der Stirn ein drittes Auge gewachsen.
Ehrlich gesagt, würde ich mich jetzt wesentlich besser fühlen, wenn sie das nicht tun würde, nicht so gucken würde.
»Was?«, haucht sie.
Es ist nicht nur dieses hingeraunte Wort. Es ist ihre ganze Körperhaltung, die in mir den plötzlichen Wunsch nach Abstand zwischen uns wachsen lässt. Der Wunsch wächst sehr, sehr schnell. Und der Abstand sollte möglichst groß sein. Eventuell würde Holland ausreichen. Lu kann nicht wissen, dass ihre Reaktion genau die ist, die ich immer fürchte, wenn ich meine Gegenüber darüber aufkläre, wie ich lebe. Trotzdem nehme ich ihr dieses ungläubige Starren irgendwie übel.
»Lu«, murmele ich leise und beuge mich vor. »Du hast doch gesagt, dass du öfter hierher kommst. Du wirst doch nicht erschrecken, nur weil ich … lesbisch bin?!«
Gott sei Dank habe ich es gesagt! Das Wort. Da war ein kleines Zögern, nur ein winziger Moment, vielleicht hat sie es gar nicht gemerkt, aber dann habe ich es gesagt.
Lu kann vorübergehend offenbar nicht antworten. Sie glotzt mich weiterhin mit riesigen, dunkel glimmenden Augen fassungslos
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