Emmas Story
zum Tisch folge, wird mir klar, dass es sicher nicht immer von Vorteil ist, wenn du gut erzogen bist und dich an die Regeln der Fairness hältst.
Hätte ich vorhin beschlossen, nicht zu diesem dämlichen Date zu gehen, würde ich jetzt mit einem klitzekleinen schlechten Gewissen, aber einem intakten seelischen Gleichgewicht daheim sitzen.
Letzteres ist nämlich ziemlich in Gefahr, wie ich soeben feststelle.
Denn während wir Platz nehmen, spricht Lu ununterbrochen davon, was für ein wahnsinniger Zufall das alles ist und dass sie nie im Leben gedacht hätte, dass ich – ich, Emma! – auf eine Kontaktanzeige antworten würde.
Ich kann sie gut verstehen, denn die schlichte Tatsache an sich ist sogar für mich verwunderlich. Wieso muss es aber auch ausgerechnet sie sein?
Und wieso muss sie sich so derart laut und exzentrisch zum Thema Kontaktanzeigen verbreiten?
»Und wie kommst du dazu, eine Anzeige aufzugeben?«, unterbreche ich ihren beständigen Redefluss in leisem Tonfall, in der Hoffnung, dass sie ihn aufnimmt.
Zumindest bei dieser Frage hätte ich doch erwartet, dass sie ein bisschen verlegen wird – mindestens so verlegen wie ich bin, weil ich auf eine Anzeige geantwortet habe – aber nein, Lu grinst nur breit und hebt die Hand.
»Irgendwie kam mir plötzlich die Idee. Ich hatte grad nichts anderes zu tun und dachte, vielleicht wird es ja ganz witzig bei diesen ersten Treffen. Du verstehst schon: Nichts muss, alles kann.« Sie zwinkert mir zu und lacht laut.
Mir bleibt alles im Halse stecken.
Der schlimmste Fall ist eingetreten!
Und das nicht etwa mit einer wildfremden Person, die ich für diesen einen Abend, für eineinhalb Stunden belächeln und dann mit Vehemenz wieder aus meinem Leben verbannen könnte.
Nein, der schlimmste Fall ist eingetreten mit meinem personifizierten Albtraum, meiner schärfsten Konkurrentin, meinem Teenagerhorror, mit Lu!
»Glaubst du immer noch so ans Schicksal wie früher?«, fragt der Schlimmste-Fall mir gegenüber.
Ein Nicken wird wohl ausreichen. Zu etwas anderem bin ich gerade nicht in der Lage.
Nie wieder Kontaktanzeigen! Versprochen, Emma!
»Dann wirst du zugeben müssen, dass es für uns offenbar vorgesehen ist, dass wir einander noch einmal begegnen und uns erzählen, wie es uns in den letzten … wie viele Jahre sind es überhaupt? … ach, egal! Jedenfalls wie es uns ergangen ist«, setzt Lu ihre Argumentation schlüssig fort.
»Na gut«, lächele ich gequält. »Ich gebe es zu.« Das ist nicht mal gelogen. Offenbar scheint es wirklich notwendig zu sein, dass ich mich dem hier stelle. Ich weiß nicht wieso, und wo der Sinn liegen soll. Aber wenn wir uns innerhalb kürzester Zeit gleich zwei Mal über den Weg laufen, muss dahinter eine gewisse Fügung stecken. Alles andere wäre grausam.
»Na, dann fang doch mal an!«, fordert sie mich auf und sieht mich gespannt an. Ihre Augen, kohlenschwarz und sonst immer in Bewegung, fixieren mich neugierig.
»Anfangen? Dir mein Leben zu erzählen? Ich wüsste gar nicht, wo ich beginnen soll …« Diese Vorstellung gruselt mich derart, dass ich nur mit Mühe ein Schaudern unterdrücken kann.
»Hast du Jura studiert?«, fragt sie zielgerichtet.
»Ja.«
»Bist du Anwältin geworden?«
»Nein.«
»Was machst du dann?«
»Ich habe ein paar Jahre als Dozentin an der Uni gearbeitet. Jetzt schreibe ich gerade meine Doktorarbeit.«
»Wow!« Sie ist beeindruckt. Ich kenne das Gesicht. Die beiden Buchstaben, die ich demnächst hoffentlich vor meinem Namen tragen darf, erzeugen bei meinen Gegenübern regelmäßig Respekt und Achtung.
Dabei ist eine Dissertation eigentlich ein Klacks, wenn man es gewöhnt ist, wissenschaftlich zu arbeiten.
Man muss nur das richtige Thema finden, ein bisschen pfiffig im Kopf sein und keine Angst davor haben, viele Bücher zu lesen und viele Seiten zu schreiben. Das ist alles.
Trotzdem beruhigt es mich irgendwie, dass Lu nun so anerkennend schaut. Es erfüllt mich mit einem warmen, sanften Gefühl des heimlichen Triumphes.
»Einen Doktor wie dich hat die Uni bestimmt noch nie gesehen«, meint Lu keck.
»Wie mich?«, frage ich.
Sie senkt den Kopf und sieht mich von unten herauf mit ihren schwarzen Augen an, als wüsste ich genau, was sie meint und würde mit meiner Frage nur kokettieren.
»Du bist wunderschön! Das hörst du wahrscheinlich ständig. Also weißt du es ziemlich gut. Und einen wunderschönen Doktor gibt’s nicht so oft, oder?«
Ich hatte ganz vergessen, wie sehr ich
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