Empfindliche Wahrheit (German Edition)
Wildlife.«
»Wildlife wurde sehr wohl exekutiert. Und ein paar unschuldige Menschen gleich mit. Das wissen Sie so gut wie ich.«
»Ob Sie oder ich es wissen, darum geht es nicht. Es geht darum, ob die Welt es weiß und ob sie es wissen sollte. Und die Antwort auf beide Fragen, mein Lieber – selbst ein Blinder sieht das, von einem geschulten Diplomaten wie Ihnen gar nicht erst zu reden –, ist ein ganz entschiedenes Nein. Kein Bedarf, niemals. Die Zeit heilt diese Art Wunden nicht, sie bringt sie zum Schwären. Da heißt jedes Jahr des Schweigens ein paar hundert Dezibel an populistischer moralischer Entrüstung mehr.«
Nach diesem rhethorischen Tusch lächelte er freudlos, lehnte sich zurück und wartete auf den Applaus. Und als keiner kam, genehmigte er sich ein Schlückchen Calvados und fuhr obenhin fort:
»Überlegen Sie doch, Toby: ein Haufen amerikanischer Söldner, verstärkt durch eine getarnte britische Spezialeinheit und finanziert von republikanischen Fundamentalisten. Das Ganze ausgeheckt von einem dubiosen Militärdienstleister in Zusammenarbeit mit einer Handvoll feuerspeiender Neokonservativer aus unserer schnell dahinschwindenden New-Labour-Riege. Und als Dividende? Die verstümmelten Leichen einer unschuldigen Muslimin samt ihrem Kind. Wenn das kein gefundenes Fressen für die Medien ist! Und das tapfere kleine Gibraltar mit seiner leidgeprüften multi-ethnischen Bevölkerung … Die Rufe danach, es an Spanien zurückzugeben, würden uns noch in Jahrzehnten in den Ohren hallen! Wenn sie es nicht schon tun.«
»Und weiter?«
»Ich verstehe nicht ganz.«
»Was erwarten Sie, dass ich tun soll?«
Worauf sich Oakleys Blick, mit einem Mal gar nicht mehr ausweichend, in brennender Beschwörung auf Toby heftete:
»Nicht tun , mein Lieber! Lassen sollen Sie! Von dieser leidigen Sache ablassen. Bevor es zu spät ist.«
»Zu spät wofür?«
»Für Ihre Karriere natürlich! Lassen Sie ab von dieser selbstgerechten Suche nach dem Unfindbaren. Damit richten Sie sich nur zugrunde. Werden Sie wieder der, der Sie waren. Dann ist alles vergeben und vergessen.«
»Wer sagt das?«
»Ich.«
»Sie und wer noch? Jay Crispin? Wer?«
»Was für eine Rolle spielt das? Ein informelles Konsortium weiser Männer und Frauen, denen das Wohl unserer Nation am Herzen liegt, reicht das? Seien Sie nicht kindisch, Toby.«
»Wer hat Jeb Owens getötet?«
»Ihn getötet? Niemand. Er selber. Er hat sich erschossen, der arme Kerl. Er war jahrelang psychisch krank. Hat Ihnen das keiner gesagt? Oder passt die Wahrheit einfach nicht in Ihr Konzept?«
»Jeb Owens wurde ermordet.«
»Unsinn. Blühender Unsinn. Wie kommen Sie überhaupt auf so etwas?« Oakleys Kinn ruckte herausfordernd nach vorn, aber seine Stimme klang eine Spur defensiv.
»Jeb Owens wurde in den Kopf geschossen, mit einer Waffe, die ihm nicht gehörte und die er in der falschen Hand hielt, einen Tag bevor er sich mit Probyn treffen wollte. Er hatte gerade neue Hoffnung geschöpft. Er hatte so viel Hoffnung geschöpft, dass er am Morgen seines Todestages seine Frau anrief, von der er getrennt lebte, um ihr zu sagen, dass alles gut werden würde und dass sie neu anfangen sollten. Seine Mörder, wer immer sie sind, haben eine drittklassige Schauspielerin engagiert, damit sie sich als Ärztin ausgibt – Arzt wäre schon eher richtig gewesen, nur wussten sie das dummerweise nicht – und bei Probyn anruft. Jeb war da schon längst tot, aber sie wollte ihm weismachen, dass er am Leben und in der geschlossenen Abteilung ist und mit niemandem reden will.«
»Wer hat Ihnen diesen Humbug erzählt?« – aber Oakleys Miene war deutlich weniger selbstgewiss als seine Worte.
»Die polizeiliche Untersuchung wurde von gewissenhaften Zivilbeamten von Scotland Yard durchgeführt. Dank ihrer Gründlichkeit blieben sämtliche Hinweise unverfolgt. Auf einen Gerichtsmediziner wurde verzichtet, auf die üblichen Formalitäten ebenso, und die Einäscherung ging mit unnatürlicher Geschwindigkeit über die Bühne. Fall abgeschlossen.«
»Toby.«
»Was?«
»Einmal angenommen, Sie hätten recht – das höre ich alles zum ersten Mal. Es ist mir völlig neu, ich schwöre es. Mir hat man gesagt …«
» Man? Wer ist man ? Wer zum Henker ist man ? Man hat Ihnen was gesagt? Dass Jebs Ermordung erfolgreich vertuscht wurde und alle nach Hause gehen können?«
»So wie ich es verstanden habe und noch verstehe, hat sich Owens in einem Anfall von Depression oder Frustration
Weitere Kostenlose Bücher