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Empfindliche Wahrheit (German Edition)

Empfindliche Wahrheit (German Edition)

Titel: Empfindliche Wahrheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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oder woran der arme Mann eben gelitten hat, das Leben genommen, und – warten Sie! Was machen Sie da? Warten Sie! «
    Toby stand an der Tür.
    »Kommen Sie wieder her. Ich bestehe darauf. Setzen Sie sich« – Oakleys Stimme klang belegt. »Vielleicht bin ich irregeführt worden. Möglich ist es. Nehmen wir es einmal an. Nehmen wir an, alles, was Sie sagen, stimmt. Einfach der Diskussion halber. Sagen Sie mir, was Sie wissen. Es muss Gegenargumente geben. Es gibt immer welche. Nichts ist in Stein gemeißelt. Nicht im realen Leben. Es kann nicht sein. Setzen Sie sich wieder hin. Wir sind noch nicht fertig.«
    Unter Oakleys flehendem Blick kam Toby von der Tür zurück, setzte sich aber nicht.
    »Erzählen Sie es mir noch einmal«, befahl Oakley, einen Moment lang fast wieder mit der alten Autorität. »Das muss Hand und Fuß haben. Was sind Ihre Quellen? Alles nur Hörensagen doch sicher. Egal. Sagen wir, sie haben ihn getötet. Diese sie , über die Sie sich so ereifern. Nehmen wir das einmal an. Und was schließen wir nun aus dieser Annahme? Das will ich Ihnen sagen« – die Worte jetzt abgehackt, kurzatmig –, »wir schließen daraus verbindlich, dass es Zeit für Sie ist, zum Rückzug zu blasen – zu einem vorübergehenden, geordneten, würdevollen Rückzug, ehe es zu spät dazu ist. Zu einer Détente. Einem Waffenstillstand, bei dem beide Seiten ihre Positionen neu überdenken und die Gemüter sich abkühlen können. Das ist keine Feigheit vor dem Feind – ich weiß, das wäre nicht Ihr Stil. Nein, Sie sparen sich Ihre Munition nur für einen anderen Tag auf – eine Zeit, wenn Sie stärker sind und mehr Macht haben, einen größeren Hebel. Wenn Sie jetzt mit dem Kopf durch die Wand wollen, werden Sie bis an Ihr Lebensende ein Ausgestoßener sein. Ausgerechnet Sie, Toby! Ausgestoßen für immer. Ein Geächteter, der seine Trümpfe zu früh ausgespielt hat. Dafür sind Sie nicht auf der Welt, glauben Sie mir. Alle im Land rufen nach einer neuen Elite. Schreien danach. Nach Männern wie Toby Bell – echten Männern. Echten Engländern, unverdorben – Träumer von mir aus, aber mit beiden Füßen fest auf dem Boden stehend. Bell ist euer Mann, habe ich ihnen gesagt. Ein unverstellter Blick, und das Herz und der Körper, die dazugehören. Du weißt ja nicht einmal, was das ist – Liebe. Meine Art Liebe. Du bist blind dafür. Unschuldig. Von Anfang an. Das war mir klar. Ich habe es verstanden. Ich habe dich nur umso mehr geliebt deswegen. Eines Tages, dachte ich, wird er zu mir kommen. Aber ich wusste natürlich, dass das nie passieren würde.«
    Doch da sprach Giles Oakley schon längst ins Leere.
    ***
    Toby liegt im Dunkeln auf dem Bett, den silbernen Burner in der Rechten, und lauscht den nächtlichen Rufen draußen auf der Straße. Warte, bis sie daheim ist. Der Nachtzug fährt um 23 . 45 Uhr in Paddington los. Ich habe nachgeschaut, er war pünktlich. Taxis lehnt sie ab. Sie lehnt alles ab, was die Armen sich nicht leisten können. Warte also noch.
    Er drückt trotzdem auf »Verbinden«.
    »Wie war dein Vortrag?«, fragt sie schläfrig.
    »Ich bin nicht hingegangen.«
    »Was hast du dann gemacht?«
    »Einen alten Freund besucht, ein bisschen reden.«
    »Über irgendwas Bestimmtes?«
    »Einfach dies und das. Wie war dein Vater beieinander?«
    »Ich hab ihn dem Schaffner übergeben. Der übergibt ihn dann am anderen Ende meiner Mutter.«
    Geräusche wie von einer Balgerei, rasch unterdrückt. Ein gemurmeltes »Pfoten weg«.
    »Dieses nervige Katzenvieh«, sagt sie. »Jede Nacht versucht sie zu mir ins Bett zu kriechen, und ich muss sie runterschmeißen. Oder was dachtest du?«
    »Ich habe gar nichts zu denken gewagt.«
    »Mein Vater behauptet übrigens steif und fest, du hättest es auf mich abgesehen. Stimmt das?«
    »Wahrscheinlich schon.«
    Langes Schweigen.
    »Was ist morgen?«, fragt sie.
    »Donnerstag.«
    »Du triffst dich mit diesem Menschen. Ja?«
    »Ja.«
    »Ich habe Sprechstunde. Sie endet gegen Mittag. Danach mache ich Hausbesuche.«
    »Dann vielleicht hinterher«, sagt er.
    »Mhmm.« Wieder Schweigen. »Ist irgendwas schiefgelaufen heute Abend?«
    »Nur mein Freund. Er dachte, ich wäre schwul.«
    »Aber du bist es nicht?«
    »Nein. Ich glaube nicht.«
    »Und du hast auch nicht aus Höflichkeit so getan?«
    »Nicht dass ich wüsste.«
    »Na, dann ist das doch so weit in Ordnung, oder?«
    Red weiter, will er ihr sagen. Es müssen nicht deine Hoffnungen und Träume sein. Jedes Thema ist recht.

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