Empfindliche Wahrheit (German Edition)
die abendliche Ernte auf etwaige lohnende Indiskretionen ab.
Von einer Sekunde auf die andere ist Tobys Selbstbeherrschung beim Teufel:
»Mir steht diese ganze verdammte Dreckscheiße bis hierhin, aber dermaßen!«, verkündet er und knallt sein Glas mit Oakleys uraltem Calvados vor sich auf den Tisch.
»Mit der ganzen Dreckscheiße meinen Sie was genau?«, erkundigt sich Oakley, der fünfundfünfzigjährige Hansdampf in allen Gassen, und streckt genießerisch die kurzen Beine von sich, wie das im Angesicht der Krise so seine Art ist.
Mit weltmännischer Ungerührtheit hört er Toby bis zum Ende an, ehe er, nicht minder ungerührt, zu seiner ebenso ätzenden wie liebevollen Erwiderung ansetzt:
»Dann mal zu, Toby. Schmeißen Sie alles hin. Ich teile Ihre unausgegorenen Privatanschauungen völlig. Eine souveräne Nation wie die unsere sollte nicht unter falschem Vorwand in einen Krieg geführt werden, schon gar nicht von zwei egomanen Fanatikern, die das Wort Geschichte nicht mal buchstabieren können. Und erst recht hätten wir nicht versuchen dürfen, eine andere souveräne Nation dazu zu bringen, unserem schmählichen Beispiel zu folgen. Also los, kündigen Sie. Sie sind genau das, was der Guardian braucht: eine verlorene Stimme mehr, die in der Wüste ruft. Wenn Sie nicht mit der Politik der Regierung übereinstimmen, um Gottes willen, verschwenden Sie Ihre Zeit nicht damit, sie am Ende noch ändern zu wollen! Nein, gehen Sie von Bord! Schreiben Sie den großen Roman, von dem Sie immer geträumt haben!«
Aber so leicht lässt sich Toby den Wind nicht aus den Segeln nehmen:
»Wo stehen Sie denn, Giles? Sie waren ebenso dagegen wie ich, leugnen Sie es nicht. Als zweiundfünfzig von unseren Botschaftern a. D. in ihrem offenen Brief geschrieben haben, dass die ganze Sache an den Haaren herbeigezogen ist, meinten Sie mit einem tiefen Seufzer zu mir, Sie wünschten, Sie wären auch schon im Ruhestand. Muss ich warten, bis ich sechzig bin, bevor ich den Mund aufmachen darf? Ist es das, was Sie mir sagen wollen? Bis ich mein ›Sir‹ und meine dynamische Rente habe und Präsident des örtlichen Golfclubs bin? Ist das Loyalität oder einfach nur Drückebergerei, Giles?«
Oakleys Lächeln büßt ein wenig von seiner Hintergründigkeit ein, als er, die Fingerspitzen aneinandergelegt, vorsichtig seine Antwort formuliert:
»Wo ich stehe, fragen Sie. Ich stehe nicht, ich sitze. Am Verhandlungstisch. Immer am Verhandlungstisch. Ich wiegle ab, ich argumentiere, ich plädiere, ich demontiere, ich schmeichle, ich hoffe. Aber ich erwarte nichts. Ich hänge der geheiligten diplomatischen Doktrin der Mäßigung in allen Dingen an, und ich wende sie auf die Greueltaten sämtlicher Nationen an, einschließlich meiner eigenen. Ich gebe meine Emotionen an der Garderobe ab, bevor ich den Verhandlungsraum betrete, und ich stürme nie beleidigt davon, es sei denn, ich bin explizit dazu angewiesen. Ich mache konsequent nur halbe Sachen, und ich bin stolz darauf. Von Zeit zu Zeit – und jetzt könnte durchaus so eine Zeit sein – richte ich eine vorsichtige Demarche an unsere verehrten Herren und Meister. Aber ich versuche nie , Westminster an einem Tag neu zu bauen. Und genauso wenig – auf die Gefahr hin, schwülstig zu klingen – sollten Sie das.«
Und während Toby noch nach einer Antwort sucht:
»Noch etwas, wo ich Sie schon mal allein hier habe, wenn Sie gestatten. Mein geliebtes Ehegespons, das alles sieht und alles hört, was mit dem diplomatischen Ringelpiez hier in Berlin zu tun hat, sagt mir, dass Sie ein Techtelmechtel mit der Frau des holländischen Militärattachés unterhalten, die ein notorisches Flittchen ist. Richtig oder falsch?«
Tobys Abordnung an die britische Botschaft in Madrid, die unerwartet festgestellt hat, dass sie dringend einen Attaché mit Erfahrung im Verteidigungsbereich braucht, erfolgt einen Monat später.
***
Madrid.
Trotz des Alters- und Rangunterschieds zwischen ihnen bleiben Toby und Giles in enger Verbindung. Wie viel davon Oakleys Einsatz hinter den Kulissen geschuldet ist und wie viel dem Zufall, darüber kann Toby nur mutmaßen. Sicher ist jedenfalls: Oakley zieht sich Toby heran, wie das manche älteren Diplomaten, bewusst oder unbewusst, mit den Nachwuchskräften ihres Wohlgefallens tun. Unterdessen war der Nachrichtenfluss zwischen London und Madrid nie lebhafter oder von kritischerer Bedeutung. Im Mittelpunkt stehen nicht mehr Saddam Hussein und seine unauffindbaren
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