Empfindliche Wahrheit (German Edition)
taucht er dann unerwartet in Harvard wieder auf, an der John F. Kennedy School of Government, wo er seine gegenwärtige Frau kennenlernt und heiratet, eine reiche, wenn auch labile Kanadierin. Er kehrt nach Schottland zurück, wo ihn ein sicherer Parlamentssitz erwartet. Die Imageberater der Partei erklären seine Frau umgehend für nicht vorzeigbar. Es kursiert das Gerücht, dass sie trinkt.
Die Stimmen, die Toby rund um Whitehall einholt, ergeben bestenfalls ein durchwachsenes Bild. »Liest seine Berichte flott weg, aber wehe Ihnen, wenn er glaubt, tätig werden zu müssen«, warnt ein leidgeprüfter Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums strikt im Vertrauen. Und eine ehemalige Assistentin namens Lucy: »Sehr charmant, sehr liebenswürdig, wenn er was von einem will.« Und wenn er nichts von einem will?, fragt Toby. »Dann ist er irgendwie gar nicht richtig da«, sagt sie stirnrunzelnd und weicht seinem Blick aus. »Dann ist er weit weg und kämpft mit seinen Dämonen.« Aber was für Dämonen das sind und auf welche Weise er mit ihnen kämpft, will oder kann Lucy nicht sagen.
Dennoch lässt sich alles gut an.
Sicher, Fergus Quinn macht es einem nicht leicht, aber das hat Toby auch nicht erwartet. Er kann schlagfertig, begriffsstutzig, nörglerisch, unflätig und bezwingend rücksichtsvoll sein, alles innerhalb eines halben Tages – eben noch umgänglich und zugewandt, im nächsten Moment ein einsamer Wolf, der sich mit seinen Depeschenkassetten hinter seiner schweren Mahagonitür verschanzt. Er ist der geborene Tyrann, und wie angekündigt hält er nicht hinterm Berg mit seiner Geringschätzung der Beamtenschaft; selbst engsten Mitarbeitern bleiben seine Rüffel nicht erspart. Seine größte Verachtung jedoch gilt dem ausufernden Whitehall’schen Spionage-Apparat, den er als aufgebläht, elitär, eigennützig und selbstverliebt tituliert. Das trifft sich ungünstig, denn zu den Aufgaben von »Team Quinn« gehört es, »eingehendes Nachrichtenmaterial aus allen Quellen zu prüfen und Empfehlungen für die Verwertung durch die zuständigen Stellen abzugeben«.
Was nun den Skandal angeht, aus dem nie ein Skandal wurde: Wann immer Toby der Drang beschleicht, sich ihm zu nähern, stößt er an eine Mauer des Schweigens, die eigens für ihn errichtet scheint: Fall abgeschlossen, alter Knabe … tut mir leid, Redeverbot … Und einmal, wenngleich nur von einem aufschneiderischen Schreiberling aus der Finanzabteilung bei einem Freitagabendbier im Sherlock Holmes: Tja, der hat sich ungestraft die Taschen vollmachen dürfen, was? Aber erst der verdrießliche Gregory, neben dem Toby bei einer der faden allmontäglichen Lagebesprechungen zu sitzen kommt, bringt seine Alarmglocken richtig zum Schrillen.
Gregory, ein großer, schwerer Mann, der älter wirkt als seine Jahre, ist Tobys Altersgenosse und hypothetischer Rivale. Aber jeder weiß, wann immer bei den beiden eine Beförderung ansteht, geht die Sache zu Tobys Gunsten aus. Auch jetzt, beim Rennen um den Posten beim neuen Staatsminister, kann es gut wieder so gelaufen sein. Allerdings bestand den Gerüchten zufolge diesmal keine echte Konkurrenz, denn Gregory war für zwei Jahre ins Verteidigungsministerium abgestellt, was ihn fast täglich in Kontakt mit Quinn gebracht hat, während Toby jungfräulich ist, unbelastet von zweifelhaftem Gepäck aus der Vergangenheit.
Die Lagebesprechung gelangt zu ihrem ergebnisarmen Ende. Der Raum leert sich. Toby und Gregory bleiben in stillschweigender Übereinkunft am Tisch sitzen. Für Toby bietet das Zusammentreffen eine willkommene Gelegenheit, das Kriegsbeil zu begraben; Gregory ist weniger versöhnlich gestimmt.
»Und, wie läuft’s so mit König Fergie?«, erkundigt er sich.
»Ganz gut, Gregory, danke. Etwas stürmisch ab und zu, wie zu erwarten. Und wie lebt sich’s als Amtschef? Da ist sicher so einiges los.«
Aber Gregory ist nicht erpicht darauf, aus seinem Leben als Amtschef zu erzählen, das er als armseligen Ersatz für den Posten eines persönlichen Referenten beim neuen Staatsminister sieht.
»Wenn du einen guten Rat willst: Pass auf, dass er nicht die Büromöbel zur Hintertür rausschmuggelt und verkauft«, sagt er mit einem humorlosen Feixen.
»Wieso? Ist das sein heimliches Laster? Büromöbel verscherbeln? Na, wenn er seinen neuen Schreibtisch drei Stockwerke runterschleppen will, hat er aber ganz schön zu tun«, erwidert Toby, fest entschlossen, sich nicht aus der Reserve locken zu
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