Empfindliche Wahrheit (German Edition)
war davon ausgegangen, dass Isabel ihre Meinung bis zum Morgen geändert haben würde wie bisher auch immer, aber diesmal stand ihr Entschluss. Es war ohne Geschrei abgegangen, ohne Tränen. Er hatte ihr ein Taxi bestellt, sie hatte derweil ihre Sachen gepackt. Das Taxi fuhr vor, er half ihr, das Gepäck nach unten zu tragen. Ihr machte der seidene Hosenanzug Sorgen, der noch in der Reinigung war. Er ließ sich von ihr den Bon geben und versprach, ihr den Hosenanzug nachzuschicken. Sie war bleich. Sie drehte sich nicht um, auch wenn sie sich eine letzte Spitze nicht verkneifen konnte:
»Machen wir uns nichts vor, Toby, du bist und bleibst ein kalter Fisch« – worauf sie davonrollte, angeblich zu ihrer Schwester in Suffolk, wobei er ihr durchaus zutraute, auch noch andere Eisen im Feuer zu haben, nicht zuletzt ihren erst kürzlich verlassenen Ehemann.
Und Toby, nicht minder stark von Entschluss, war zu Fuß losgezogen, um sich in Soho mit einem Kaffee und einem Croissant auf seinen Diebeszug einzustimmen. Und so saß er nun in der Morgensonne, nippte an seinem Cappuccino und starrte mit leerem Blick auf die Passanten. Wenn ich so ein kalter Fisch bin, wie habe ich es dann geschafft, mich in diese beschissene Situation zu bringen?
Antwort auf diese und verwandte Fragen suchten seine Gedanken gewohnheitsmäßig bei Giles Oakley, seinem enigmatischen Mentor und selbsternannten Gönner.
***
Berlin.
Der frischgebackene Diplomat Bell, Zweiter Sekretär (Bereich Politik), hat bei der britischen Botschaft seine erste Auslandsstelle angetreten. Der Irakkrieg bahnt sich an, England ist schon im Boot, leugnet es aber noch. Deutschland schwankt unentschlossen. Giles Oakley, die graue Eminenz der Botschaft – der blitzschnelle, spitzbübische, mit allen Wassern gewaschene Oakley –, ist Tobys Referatsleiter. Oakleys Aufgabe (unter zahllosen anderen, weniger klar umrissenen) ist es, die Weitergabe von Informationen an die deutschen Verbindungsleute zu steuern. Tobys Aufgabe: Oakleys Handlanger zu sein. Sein Deutsch ist bereits gut. Wie immer lernt er schnell. Oakley nimmt ihn unter seine Fittiche, schleift ihn in alle Ministerien mit und öffnet ihm Türen, die jemand so Subalternem andernfalls verschlossen blieben. Sind Toby und Giles Spione? Aber woher denn! Sie sind astreine britische Karrierediplomaten, die es wie so viele andere an die riesige Nachrichtenbörse der freien Welt verschlagen hat.
Das Problem ist nur: Je weiter Toby in diese inneren Zirkel vordringt, desto mehr wächst sein Abscheu vor dem Krieg, der bevorsteht. Er sieht ihn als ungerechtfertigt, unmoralisch und zum Scheitern verurteilt. Sein Unbehagen wird verstärkt durch das Wissen, dass selbst die lethargischsten seiner Schulfreunde auf die Straße gehen und protestieren. Ebenso seine Eltern, die in ihrer christlich-sozialen Rechtschaffenheit der Meinung sind, dass das Ziel der Diplomatie sein sollte, Kriege zu verhindern, statt zu befördern. Seine Mutter schickt ihm eine Verzweiflungs-E-Mail: Tony Blair – ihr einstiges Idol – hat uns alle verraten. Sein Vater, der strenge Methodist, bezichtigt Bush und Blair der gemeinschaftlichen Sünde des Hochmuts und droht damit, eine Parabel über zwei von ihrem eigenen Spiegelbild verzauberte Pfauen zu dichten, die sich in Geier verwandeln.
Bei einem solchen Chor von Stimmen, die ihm neben seiner eigenen im Ohr klingen: wen wundert’s, dass es Toby hart ankommt, das Loblied des Krieges zu singen – ausgerechnet gegenüber den Deutschen! – und sie zum Mitmachen zu nötigen. Auch er hat seinerzeit aus vollem Herzen für Blair gestimmt. Nun empfindet er die hohlen öffentlichen Posen, die sein Premierminister einnimmt, zunehmend als Brechmittel. Und die Operation Iraqi Freedom bringt das Fass endgültig zum Überlaufen.
Schauplatz ist Oakleys Diplomatenvilla in Grunewald. Es ist Mitternacht, ein weiterer peinigender »Herrenabend« – sprich: Power-Dinner für männliche Egos – schleppt sich dem Ende entgegen. Tobys Freundeskreis in Berlin ist gar nicht so klein, aber die heutigen Gäste gehören nicht dazu. Ein dröger Bundesminister, ein unsagbar eitler Industriebonze aus dem Ruhrgebiet, ein Hohenzollernprinz und ein Quartett nassauernder Bundestagsabgeordneter haben endlich ihre Limousinen gerufen. Oakleys Frau Hermione, Diplomatengattin par excellence, die das Geschehen von der Küche aus bei einem üppig eingeschenkten Gin überwacht hat, ist zu Bett gegangen. Toby und Giles Oakley klopfen
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