Empfindliche Wahrheit (German Edition)
Massenvernichtungswaffen, sondern die neue Generation von Gotteskriegern, die der Westen durch seinen Angriff auf ein traditionsgemäß eher säkulares Nahostland selbst auf den Plan gerufen hat – eine zu bittere Wahrheit, als dass die Schuldigen sie zugeben könnten.
So bleibt das Duo also bestehen. In Madrid wird Toby – ob es ihm gefällt oder nicht, und die meiste Zeit gefällt es ihm – ein führender Händler an der Nachrichtenbörse, der wöchentlich nach London fliegt, wo Oakley den Spagat zwischen den Spionen Ihrer Majestät am einen Themseufer und dem Außenministerium Ihrer Majestät am anderen zuwege bringt.
Mittels verklausulierter Diskussionen in den hochgesicherten Kellerräumen Whitehalls werden neue Regeln für den Umgang mit terrorismusverdächtigen Gefangenen ausgearbeitet. Ungeachtet seines niedrigen Dienstgrads ist Toby dabei. Oakley führt den Vorsitz. Das Wort verschärft wird viel gebraucht, aber seine Bedeutung bleibt für die Uneingeweihten, zu denen auch Toby gehört, wolkig. Dennoch macht er sich seine Gedanken. Kann es sein, dass diese sogenannten neuen Regeln in Wahrheit die alten, barbarischen sind, nur von Spinnweben befreit und zu frischem Glanz aufpoliert?, fragt er sich. Und falls er recht hat, wovon er immer mehr ausgeht, worin besteht dann der moralische Unterschied zwischen dem Mann, der die Elektroden anlegt, und dem Mann, der hinterm Schreibtisch sitzt und so tut, als wüsste er von nichts?
Aber als Toby, mannhaft bemüht, diese Bedenken mit seinem Gewissen und seiner Erziehung in Einklang zu bringen, einige davon äußert – rein akademisch selbstredend, wie er Oakley bei ihrem zweisamen Essen in Oakleys Club versichert (eine festliche Angelegenheit, denn Toby ist befördert worden, befördert und an die Botschaft in Kairo versetzt!) –, antwortet Oakley, der Mann, dem nichts verborgen bleibt, nur mit einem schwärmerischen Lächeln und verschanzt sich hinter seinem geliebten La Rochefoucauld:
»Die Heuchelei ist der Tribut, den das Laster der Tugend entrichtet, mein Lieber. In einer unvollkommenen Welt ist das das Beste, womit wir rechnen dürfen, fürchte ich.«
Und Toby lächelt bewundernd über Oakleys Esprit und ermahnt sich einmal mehr, dass er es lernen muss, mit Kompromissen zu leben. Das »mein Lieber« fehlt jetzt eigentlich bei keinem der Sätze, die Oakley an ihn richtet: ein weiterer Beweis, wenn denn einer nötig wäre, für seine außerordentliche Zuneigung zu seinem Protegé.
***
Kairo.
Toby Bell ist der Sonnyboy der britischen Botschaft – wie jeder, vom Botschafter abwärts, bestätigen kann. Ein sechsmonatiger Intensivkurs, und der Junge kann schon fast richtig Arabisch! Kommt gut an bei den ägyptischen Generälen und macht nicht ansatzweise seinen unausgegorenen Privatanschauungen Luft – eine Formel, die sich ihm unauslöschlich eingegraben hat. Versieht gewissenhaft das Geschäft, in dem er beinahe zufällig Erfahrung erworben hat: den Nachrichtenhandel mit seinen ägyptischen Kollegen, denen er auf Anweisung von oben die Namen ägyptischer Islamisten in London zuspielt, die gegen das Regime konspirieren.
An den Wochenenden reitet er mit launigen Militärs und Geheimpolizisten auf Kamelen und besucht die extravaganten Partys der Superreichen in ihren Hochsicherheitsanwesen in der Wüste. Und wenn er bis zum Morgengrauen mit ihren bildschönen Töchtern geflirtet hat, fährt er heim durch die endlosen Müllhalden am Stadtrand, die Autofenster geschlossen gegen den Gestank von brennendem Plastik und verfaulenden Lebensmitteln, während verhüllte Mütter und ihre Kinder wie zerlumpte Geister den Unrat nach Essbarem durchforsten.
Und wer ist derweil der Dreh- und Angelpunkt in London? Wer schwingt das Zepter über diesem pragmatischen Handel mit menschlichen Geschicken, wer schickt nette persönliche Huldigungsbriefe an den Chef von Mubaraks Geheimpolizei? Kein anderer als der große weise Mandarin des Außenministeriums, Giles Oakley.
Weshalb es niemanden überrascht außer vielleicht den jungen Bell selbst, dass er vier Monate vor den ägyptischen Kommunalwahlen, als der Unmut des Volkes über Hosni Mubaraks Verfolgung der Muslimbruderschaft immer mehr in Gewalt auszuarten droht, in aller Eile nach London zurückbeordert wird, um dort schon wieder befördert zu werden: diesmal zum persönlichen Referenten, Aufpasser und Berater des frisch ernannten Staatsministers im Foreign Office, Fergus Quinn, Parlamentsabgeordneter und bis vor
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