Empfindliche Wahrheit (German Edition)
angefertigten Tonbandaufnahme aus dem Privatbüro eines Staatsministers, in dessen Dienst er von Rechts wegen die besten seiner nicht zu knappen Fähigkeiten hätte stellen sollen.
Er hieß Toby Bell, und er war gänzlich allein in seinen verbrecherischen Bestrebungen. Kein dämonischer Einflüsterer zog seine Strippen, kein Zahlmeister, Lockspitzel oder finsterer Manipulator mit einem Koffer voller Hundert-Dollar-Scheine wartete hinter der Ecke, kein vermummter Aktivist. Insofern war er jene meistgefürchtete Kreatur unserer heutigen Welt: ein unabhängiger Entscheider. Von einer geplanten Geheimoperation in der Kronkolonie Gibraltar wusste er nichts; sein jetziges Dilemma verdankte er vielmehr seiner quälenden Unwissenheit.
Weder sein Äußeres noch sein Naturell waren besonders schurkentauglich. Selbst jetzt, wo er mit seinem kriminellen Vorhaben schwanger ging, blieb er der anständige, penible, zwanghaft ehrgeizige Intelligenzling, als den seine Kollegen und Vorgesetzten ihn kannten. Er war stämmig, nicht im klassischen Sinne gutaussehend, mit einem dichten braunen Haarschopf, der sich gegen jede Bürste sträubte. Trotzdem ging etwas unbestreitbar Gravitätisches von ihm aus. Als das einzige Kind frommer Handwerksleute an der englischen Südküste, für die keine Partei außer der Labour-Partei existierte – der Vater eine Säule seiner Methodistenkirche, die Mutter eine fröhliche, mollige Frau, die immerfort von Jesus sprach –, hatte er sich bis ins Außenministerium hochgearbeitet, erst als Büroangestellter und von da aus durch Abendschule, Sprachkurse, interne Fortbildungen und mehrtätige Assessmentcenters zu seiner begehrten derzeitigen Position. Und was den Namen Toby anging, der ihn nach britischen Maßstäben höher auf der gesellschaftlichen Leiter anzusiedeln schien als von seiner Herkunft vorgesehen, so hatte der keinen erhabeneren Ursprung als seines Vaters Begeisterung für den biblischen Tobias, von dessen beispielhaften Sohnestugenden das Alte Testament so viel zu erzählen weiß.
Der Ehrgeiz, der Toby angetrieben hatte – ihn bis heute antrieb –, war keiner, den er weiter hinterfragt hätte. Seine Schulfreunde waren alle auf das große Geld aus gewesen. Sollten sie nur. Toby – wenn auch Bescheidenheit ihm verbot, dies auszusprechen – wollte etwas bewirken oder, wie er es seinen Prüfern gegenüber verschämt genannt hatte, einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass seine Nation ihren Platz in einer postkolonialen, postkommunistischen Welt fand. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte er schon vor langem mit dem britischen Privatschulsystem aufgeräumt, sämtliche alten Privilegien abgeschafft und die Monarchie aufs Fahrrad gesetzt. Aber während er einerseits solch ketzerische Gedanken hegte, wusste der Streber in ihm doch, dass es sein erstes Ziel sein musste, in dem System, das er umkrempeln wollte, nach oben zu gelangen.
Und sein Zungenschlag – wenn er auch in diesem Moment nur mit sich selbst diskutierte? Als ein geborener Sprachfetischist, der die Musikalität seines Vaters geerbt hatte und ein überfeines Ohr für die gesamte Klaviatur akzentbedingter Stigmatisierungen besaß, hatte er die letzten Überreste seiner Dorset’schen Klangfärbung bald diskret zugunsten jenes neutralen Englisch getilgt, wie all die es sprechen, die ihre soziale Abkunft für Privatsache halten.
Mit der Veränderung seiner Sprache war eine ähnlich behutsame Änderung seines Kleiderstils einhergegangen. Für den heutigen Anlass, der es nur zu bald von ihm erfordern würde, mit allen Anzeichen beamtlicher Unbefangenheit durch die Pforten des Außenministeriums zu schlendern, hatte er Khakihosen und ein offenes Hemd gewählt – und dazu ein locker sitzendes schwarzes Sakko für das nötige Quentchen wochenendlicher Seriosität.
Noch etwas hätte kein Außenstehender ihm anzusehen vermocht: Vor nur zwei Stunden war seine Freundin, mit der er immerhin drei Monate zusammengelebt hatte, aus seiner Wohnung in Islington und aus seinem Leben gerauscht. Aus irgendeinem Grund hatte dieses tragische Ereignis keine geziemend niederschmetternde Wirkung auf ihn gehabt. Wenn ein Zusammenhang zwischen Isabels Auszug und dem geplanten Verbrechen bestand, fand sich dieser möglicherweise in den vielen Stunden nächtlichen Grübelns, über das er sich in stures Schweigen hüllte. Zugegeben, ganz vage hatten sie heute Nacht über eine mögliche Trennung gesprochen, aber das hatten sie letztens öfter. Er
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