Empfindliche Wahrheit (German Edition)
noch nicht, Ben, besten Dank«, erwidert der Mann namens Kit mit einem bellenden Auflachen. »Nein, für dieses Monsterschloss an der Stalltür. Ein Riesending, völlig verrostet, und nirgends ein Schlüssel weit und breit. Man sieht noch den Nagel, an dem er hing – aber da hängt nichts mehr. Und glauben Sie mir, es gibt nichts Ärgerlicheres als einen leeren Schlüsselhaken«, fügt er fröhlich hinzu.
»Der Stall vom Gutshof – reden Sie von dem?«, erkundigt sich Ben nach längerem Grübeln.
»Dem und keinem anderen«, bestätigt Kit.
»Müsste voll mit leeren Flaschen stehen, der Stall, so wie ich den Kommandant kenne.«
»Sehr wahrscheinlich. Und ich hoffe, dass ich schon sehr bald das Pfand dafür kassiere.«
Ben lässt sich auch das durch den Kopf gehen. »Pfand ist nicht mehr erlaubt, heute nicht mehr.«
»Wo Sie recht haben, haben Sie recht. Dann bringe ich sie eben runter zum Flaschencontainer und recycle sie«, sagt Kit geduldig.
Doch das passt Ben auch wieder nicht.
»Nee, glaub ich nicht, dass Sie irgendwas von mir kriegen sollten«, verkündet er nach reiflicher Erwägung. »Nicht, wo Sie mir gesagt haben, wo Sie’s für brauchen. Für den Gutshof. Das wär ja Beihilfe. Wenn Sie nicht der Besitzer von dem Kasten sind.«
Worauf Kit mit sichtlicher Überwindung – weil er den alten Ben nicht bloßstellen will – erklärt, dass zwar nicht er persönlich der Besitzer von dem Kasten ist, aber dafür seine liebe Frau Suzanna.
»Sie ist die Nichte des verstorbenen Kommandanten, verstehen Sie, Ben? Hat die glücklichsten Jahre ihrer Kindheit hier verbracht. Kein anderer in der Familie wollte sich das Ding aufhalsen, also haben die Verwalter beschlossen, dass wir unser Glück versuchen sollen.«
Ben denkt nach.
»Heißt das, sie ist eine Cardew? Ihre Frau?«
»Früher war sie eine, Ben. Jetzt ist sie eine Probyn. Seit dreiunddreißig glorreichen Jahren schon, wie ich unbescheiden hinzufügen möchte.«
»Dann ist das Suzanna, oder wie? Suzanna Cardew, die mit neun schon bei der Jagd mitgeritten ist? Die vor dem Startschuss losgeprescht ist, und der Jagdaufseher musste ihr Pferd zurückzerren.«
»Das klingt ganz nach Suzanna.«
»Ich fall tot um«, sagt Ben.
Wenige Tage später traf im Postamt ein Amtsschreiben ein, das mit etwaigen Restzweifeln ein für alle Mal aufräumte. Denn es war an keinen x-beliebigen Probyn adressiert, sondern an Sir Christopher Probyn , der – laut John Treglowan, der ihn im Internet nachgeschlagen hatte – eine Art Botschafter oder Kommissar oder so gewesen war, auf irgendwelchen Karibikinseln, die anscheinend immer noch britisch waren, und einen Orden hatte er dafür auch gekriegt.
***
Und von dem Tag an konnten Kit und Suzanna, wie sie sich von allen nennen ließen, nichts verkehrt machen, so wenig das den Gleichmachern im Dorf in den Kram passte. Den Kommandanten hatte man aus seinen späten Jahren als einen einsamen, menschenfeindlichen Säufer in Erinnerung; seine Nachfolger dagegen stürzten sich mit einem Elan ins Dorfleben, der selbst die verhärtetsten Gemüter erweichen musste. Mochte Kit das Gutshaus auch praktisch im Alleingang umbauen: freitags um sechs stand er unfehlbar mit einer Schürze um den Bauch im Gemeindezentrum und bediente beim Seniorenabend, und für den Abwasch hernach blieb er auch noch. Und Suzanna, die angeblich krank war – nicht, dass man es ihr angesehen hätte –, half entweder in der Kindertagesstätte aus oder machte mit dem Pfarrer, dem die Sekretärin weggestorben war, die Buchhaltung oder engagierte sich beim Benefizkonzert in der Grundschule oder packte bei dem Flohmarkt vorm Gemeindesaal mit an oder lieferte bedürftige Stadtkinder bei ihren Gasteltern ab, damit sie einmal eine Woche in smogfreiem Klima verbringen konnten, oder fuhr eine Frau, deren Mann in der Klinik lag, mal eben zu einem Besuch bei ihm nach Truro. Und hochnäsig? – kein Gedanke, genau wie du und ich war sie, Ladyschaft hin oder her.
Und wenn Kit beim Einkaufen war und einen auf der anderen Straßenseite erspähte, stand es zehn zu eins, dass er sich mit erhobenem Arm durch die Autos zu einem durchdrängelte, um zu erfahren, wie es der Tochter in ihrem freien Jahr zwischen Schule und Studium erging oder ob sich die Gattin schon langsam vom Tod ihres Vaters erholte – die Gutherzigkeit in Person, das war er, keine Spur von Standesdünkel, und ein Namensgedächtnis: phänomenal. Und erst die Tochter, Emily, die Ärztin in London war, obwohl
Weitere Kostenlose Bücher