Empfindliche Wahrheit (German Edition)
Dandy-Manier. Dann stockte er, und seine Arme sanken ehrfürchtig herab: »Mein lieber Schwan. Suki, Süße. Halleluja!«
Suzanna stand vor dem Drehspiegel und musterte sich über die Schulter. Sie trug den schwarzen Reitdress ihrer verstorbenen Tante samt Stiefeln und dazu die weiße Spitzenbluse mit dem steifen Kragen. Ihr glattes graues Haar hatte sie zu einem Knoten geschlungen und mit einem silbernen Kamm festgesteckt. Darauf saß ein glänzend schwarzer Zylinder – lachhaft eigentlich, aber auf Kit wirkte er ganz und gar entwaffnend. Die Kleider passten zu ihr, die Mode passte zu ihr, der Zylinder passte zu ihr. Sie war eine hübsche, sechzigjährige Gutsherrin ihrer Zeit, und die Zeit war das frühe zwanzigste Jahrhundert. Aber das Beste: Sie sah aus, als wäre sie in ihrem Leben keinen Tag krank gewesen.
Er verharrte auf der Türschwelle, gab sich unschlüssig, ob es ihm gestattet war, näher zu treten.
»Du wirst aber doch Spaß haben, oder, Kit?«, sagte Suzanna streng zum Spiegel. »Ich möchte nicht denken müssen, dass du dir das alles nur mir zuliebe antust.«
»Natürlich werde ich Spaß haben, Liebling. Königlich amüsieren werde ich mich.«
Und das war die Wahrheit. Wenn es seine Suki glücklich machte, dann würde er ein Tutu anziehen und aus einer Torte springen. Sie hatten sein Leben gelebt, und jetzt würden sie ihres leben, da war jeder Preis recht. Er nahm ihre Hand, zog sie andächtig an seine Lippen, hob sie dann ein Stück, als wollte er mit ihr Menuett tanzen, bevor er sie über die Abdeckfolien die Treppe hinunter in die Eingangshalle führte, wo schon Mrs. Marlow mit zwei Anstecksträußchen aus frisch gepflückten Veilchen wartete, den Lieblingsblumen von Master Bailey.
Und neben ihr, groß und schlank, Melone auf dem Kopf, ihr Kostüm aus chaplinesken Lumpen mit Sicherheitsnadeln zusammengesteckt, wartete seine Tochter, seine angebetete Emily, die erst kürzlich aus den Ruinen einer desaströsen Liebesaffäre auferstanden war.
»Alles in Ordnung, Mum?«, fragte sie geschäftsmäßig. »Tropfen, alles dabei?«
Kit enthob Suzanna einer Antwort, indem er beruhigend auf seine Blazertasche klopfte.
»Und den Inhalator, nur für alle Fälle?«
Klopfen auf die andere Tasche.
»Nervös, Dad?«
»Starr vor Angst.«
»So soll’s sein.«
Das Einfahrtstor steht offen. Kit hat die Steinlöwen auf den Torpfosten zur Feier des Tages mit dem Dampfstrahler abgespritzt. Kostümierte Festgäste flanieren schon die Market Street entlang. Emily erspäht den Dorfarzt und seine Gemahlin und schließt flink zu ihnen auf, so dass ihre Eltern allein dahinschreiten – Kit, der spaßhaft seinen Strohhut nach rechts und nach links zieht, und Suzanna, die eine sportlichere Variante des königlichen Winkens bewerkstelligt, während sie auf ihre ganz unterschiedlichen Arten Lob verteilen.
»Nein, Peggy, ist das hübsch! Wo haben Sie nur diesen wunderbaren Satin aufgetrieben?«, ruft Suzanna der Postleiterin zu.
»Teufel auch, Billy, wen versuchen Sie denn da drunter zu schmuggeln?«, raunt Kit sotto voce in das Ohr des wohlbeleibten Metzgers Mr. Olds, der als arabischer Prinz mit Turban verkleidet ist.
In den Gärten recken Osterglocken, Tulpen, Forsythien und Pfirsichblüten ihre Köpfe in den blauen Himmel auf. Vom Kirchturm flattert die schwarzweiße kornische Flagge. Die Straße entlang kommt ein Reitertrupp getrabt, lauter Kinder mit Helmen auf dem Kopf, unter Aufsicht der furchteinflößenden Polly von der Granary-Reitschule. Der Rummel wird zu viel für das vorderste Pony, es scheut, aber Polly ist zur Stelle und packt es am Halfter. Suzanna tröstet erst das Pferd, dann seine Reiterin. Kit nimmt Suzannas Arm und fühlt, als sie seine Hand zärtlich an ihren Brustkorb drückt, ihr Herz schlagen.
Hier und jetzt, denkt Kit, während Euphorie in ihm aufsteigt. Das Menschengetriebe, die übermütigen Fohlen auf den Weiden, die geruhsam am Berghang grasenden Schafe, selbst die neuen Bungalows, die den unteren Teil von Bailey’s Hill verschandeln: Wo ist das Land, dem sie all die Jahre so hingebungsvoll gedient haben, wenn nicht hier? Sicher, Merrie Old England und Laura Ashley und Ale und Cornish Pasties, Klischees über Klischees, und morgen früh gehen sich all diese reizenden Menschen wieder an die Gurgel und spannen ihrem Nachbarn die Frau aus und tun all die unschönen Dinge, die der Rest der Welt tut. Aber heute feiern sie, und wie käme ausgerechnet ein Exdiplomat dazu, sich zu
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