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Empfindliche Wahrheit (German Edition)

Empfindliche Wahrheit (German Edition)

Titel: Empfindliche Wahrheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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du?
    Nachts, wenn er seine wiedergewonnene Freiheit feiern sollte, liegt er wach und sehnt sich nach Isabels Geplapper, nach dem Trost ihres Körpers. Lauscht den Stimmen sorgloser Passanten auf der Straße unter seinem Fenster und wünscht sich, mit ihnen tauschen zu können, beneidet die Schatten in den gardinenverhängten Fenstern gegenüber.
    Und einmal – ist es die erste Nacht oder die zweite? – dringt in seinen Halbschlaf ein absurd melodiöser Chor von Männerstimmen. Als sängen sie einzig für Tobys Ohr, erklären sie sich »begierig, in den Kampf zu ziehn, will erst der Morgen uns erglühn«, und Toby, fest überzeugt, dass er jetzt endgültig verrückt geworden ist, tappt zum Fenster und erblickt unter sich einen Kreis gespenstischer, grün gekleideter Männer mit Lampions in den Händen. Und begreift nach und nach, dass es St. Patrick’s Day ist und dass die Männer die irische Nationalhymne singen und dass Islington eine rege irische Einwohnerschaft hat, was ihm wiederum Hermione ins Gedächtnis ruft.
    Soll er noch einmal bei ihr anrufen? Gott behüte!
    Was Quinn angeht, so ist der gnädigerweise wieder einmal abgängig, diesmal für länger. Gnädigerweise? – oder bedrohlicherweise? Nur einmal kommt ein Lebenszeichen von ihm: ein nachmittäglicher Anruf auf Tobys Handy. Seine Stimme hat ein metallisches Echo, als spräche er aus einer nackten Zelle. In seinem Ton schlagen Anflüge von Hysterie durch.
    »Sind Sie das?«
    »Jawohl, Herr Minister. Bell. Was kann ich für Sie tun?«
    »Sagen Sie mir nur kurz, wer versucht hat, mich zu erreichen. Ernstzunehmende Anrufer, kein Kleinscheiß.«
    »Offen gestanden, Herr Minister, eigentlich niemand. Die Leitungen waren seltsam still« – was schlicht die Wahrheit ist.
    »Was soll das heißen, ›seltsam‹? Inwiefern seltsam? Was soll seltsam sein? Gar nichts ist seltsam, hören Sie!«
    »Das wollte ich damit auch nicht andeuten, Herr Minister. Nur dass es … nun ja, ungewöhnlich ruhig war.«
    »Dann sorgen Sie dafür, dass es so bleibt.«
    Und Giles Oakley, das stete Objekt von Tobys Verzweiflung? Der macht sich ebenso rar. Erst ist er laut seiner Assistentin Victoria noch in Doha. Dann ist er den ganzen Tag und möglicherweise auch noch die ganze Nacht bei einer Tagung und darf unter keinen Umständen gestört werden. Und als Toby fragt, ob die Tagung in London oder in Doha stattfindet, antwortet sie schnippisch, dass sie keine Einzelheiten preisgeben kann.
    »Aber haben Sie ihm gesagt, dass es dringend ist, Victoria?«
    »Was denken Sie denn?«
    »Und was hat er gesagt?«
    »Dringlichkeit ist nicht gleichbedeutend mit Wichtigkeit«, gibt sie hochtrabend zurück, zweifellos ein Direktzitat ihres Vorgesetzten.
    Noch einmal vierundzwanzig Stunden müssen vergehen, bis sie ihn übers Haustelefon zurückruft, diesmal die Liebenswürdigkeit in Person:
    »Im Moment ist Giles im Verteidigungsministerium. Er möchte Sie unbedingt sprechen, nur zieht es sich wahrscheinlich noch. Aber er würde Sie gern um halb acht auf der Treppe vor dem Ministerium treffen, dann könnten Sie ein bisschen am Embankment entlangbummeln, meinen Sie, das geht?«
    Ja, das meint Toby.
    ***
    »Und das alles haben Sie wie erfahren?«, erkundigte sich Oakley im Plauderton.
    Sie schlenderten das Embankment entlang. Schwatzende Mädchen in Röcken flanierten Arm in Arm an ihnen vorbei. Der Abendverkehr lärmte ohrenbetäubend. Aber Toby nahm nichts wahr als seine eigene, zu durchdringende Stimme und Oakleys lässige Einwürfe. Er hatte versucht, Oakleys Blick einzufangen, vergebens. Das knubbelige Kinn blieb eisern vorgeschoben.
    »Sagen wir einfach, da und dort«, sagte Toby ungeduldig. »Was für eine Rolle spielt das? Eine Akte, die Quinn liegenlassen hat. Bruchstücke von Telefonaten, die ich aufgeschnappt habe. Sie haben mir doch aufgetragen, Ihnen Bescheid zu sagen, wenn ich etwas höre, Giles. Und jetzt sage ich Ihnen Bescheid.«
    »Wann soll ich Ihnen das aufgetragen haben, mein Lieber?«
    »Bei Ihnen zu Hause. Burg Oakley. Nach diesem Essen mit den Alpacas. Sie wollten, dass ich noch auf einen Calvados bleibe, also bin ich geblieben. Giles, was zum Teufel soll das?«
    »Komisch. Ich kann mich an nichts Derartiges erinnern. Wenn ein solches Gespräch stattgefunden hat, was ich bezweifle, dann strikt privat und unter Alkoholeinfluss, womit es für jegliche Wiedergabe ausscheidet.«
    »Giles!«
    Aber Oakley sprach mit seiner amtlichsten Stimme, zum Mitschreiben, und er machte

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