Empfindliche Wahrheit (German Edition)
sie viel zu jung dafür aussah: wenn die zu Besuch kam, ging die Sonne auf, man frage nur John Treglowan, der dahinschmolz, sobald er sie bloß von ferne erblickte, und sich tausenderlei Wehwehchen aus den Fingern sog, um sich von ihr heilen lassen zu können! Gut, träumen muss erlaubt sein.
So dass es niemanden überraschte außer möglicherweise Kit selbst, als Sir Christopher Probyn aus dem Herrenhaus die einzigartige, nie dagewesene Ehre widerfuhr, als erster nicht aus Cornwall gebürtiger Mensch aller Zeiten zum Narrenbischof beim alljährlichen Master-Bailey-Tag gewählt zu werden, einer Mischung aus Karneval und Jahrmarkt, der nach altem Brauch immer am Sonntag nach Ostern auf dem Bailey’s Green gefeiert wurde.
***
»Ausgefallen, aber nicht übertrieben, meinte Mrs. Marlow«, rief Suzanna, die vor dem Drehspiegel an sich herumzupfte, durch die offene Tür in Kits Ankleidezimmer herüber. »Wir sollen unsere Würde wahren, was immer das heißen soll.«
»Also nicht mein Grasrock?«, rief Kit enttäuscht zurück. »Gut, aber Mrs. Marlow wird es schon wissen«, fügte er resigniert hinzu, denn Mrs. Marlow hatte bereits dem Kommandanten den Haushalt geführt.
»Und denk dran, dass du den Karneval nicht nur eröffnest«, warnte Suzanna und ruckte ein letztes Mal prüfend an ihrem Kragen. »Du bist der Narrenbischof. Das heißt, du musst witzig sein. Aber nicht zu witzig. Und keine von deinen schlüpfrigen Scherzen. Wir haben Methodisten in der Gemeinde.«
Das Ankleidezimmer war der eine Raum im Gutshaus, der von Kits Heimwerkerwut nichts zu befürchten hatte. Er liebte die ausgeblichene viktorianische Tapete, den klobigen altmodischen Sekretär, der in einem Alkoven für sich stand, das ramponierte Schiebefenster mit seinem Blick über den Obstgarten. Und genau heute, o Freude, waren die alten Birn- und Apfelbäume aufgeblüht, dank Mrs. Marlows Mann Albert, der sie beizeiten mit kundiger Hand beschnitten hatte.
Wobei Kit nicht einfach nur in die Schuhe des Kommandanten geschlüpft war. Er hatte sich auch selbst eingebracht. So stand auf der Kirschbaumkommode eine Statuette des siegreichen Herzogs von Wellington, der über einen missmutig vor ihn hingekauerten Napoleon triumphierte: gekauft auf einem Flohmarkt in Paris, Kits erstem Auslandsposten überhaupt. Und an der Wand hing ein Stich, auf dem ein Kosake einem Janitscharen seine Lanze in den Hals rammte: Ankara, Erster Handelssekretär.
Ausgefallen, aber nicht übertrieben? Er zog die Schranktür auf und ließ den Blick über andere Relikte seiner Diplomatenvergangenheit wandern.
Cutaway und gestreifte Hose? Damit sie denken, ich bin ein gottverfluchter Bestatter?
Schwalbenschwanz? Oberkellner. Und ein ausgemachter Blödsinn in dieser Hitze, denn der Tag ließ sich entgegen allen Vorhersagen wolkenlos und strahlend an.
Dann ein beglücktes: »Heureka!«
»Sitzt du jetzt plötzlich in der Badewanne, Probyn?«
»Mit Suzanna im Bade, genau!«
Ihm war ein vergilbter Strohhut noch aus Cambridge-Tagen ins Auge gesprungen, unter dem ein gestreifter Blazer aus der gleichen Zeit hing: Wiedersehen mit Brideshead! Zur Abrundung eine uralte weiße Segeltuchhose. Dazu, als Tüpfelchen auf dem i, der antike Spazierstock mit dem geriffelten Silberknauf, eine Neuanschaffung. Für Spazierstöcke hatte er, seit er Sir Christopher war, ein harmloses Faible entwickelt. Kein Ausflug nach London konnte mehr ohne einen Abstecher in die Geschäftsräume von Mr. James Smith in der New Oxford Street vonstattengehen. Und schließlich noch – jippie! – die Neonsocken, die ihm Emily zu Weihnachten geschenkt hatte.
»Em? Wo steckt dieses Kind schon wieder? Emily, ich brauche sofort deinen besten Teddybären!«
»Sie ist mit Sheba joggen«, erinnerte ihn Suzanna aus dem Schlafzimmer.
Sheba, die gelbe Labradorhündin, die sie schon auf dem letzten Auslandsposten dabeihatten.
Er wandte sich wieder dem Schrank zu. Um die Neonsocken besser zur Geltung zu bringen, mussten es die orangeroten Wildlederhalbschuhe aus dem Sommerschlussverkauf in Bodmin sein. Er schlüpfte hinein und jaulte auf. Und wenn schon! Bis zum Tee würde er ihnen entronnen sein. Er suchte eine gewagte Krawatte aus, zwängte sich in den Blazer, stülpte sich den Strohhut in verwegenem Winkel über den Kopf und sagte in seinem blasiertesten Brideshead-Ton:
»Suki, Darling, wo mag nur das Skript für meine Narrenrede abgeblieben sein?« – indem er in die Tür trat, die Hand an der Hüfte nach bester
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