Empfindliche Wahrheit (German Edition)
War die Operation unblutig, oder war sie es nicht? Ist jemand dabei ums Leben gekommen? Und wenn ja, wer ? Ob unschuldig oder schuldig, interessiert mich nicht: Ist jemand umgekommen? Und zweitens« – rechnerisch mochte er nicht mehr ganz auf der Höhe sein, aber locker ließ er deshalb noch lange nicht: »Ist eine Frau ums Leben gekommen? Und ist ihr Kind ums Leben gekommen? Oder irgendein anderes Kind ? Suzanna hat ein Recht, das zu erfahren. Und ich auch. Und wir müssen beide wissen, was wir unserer Tochter antworten sollen, denn Emily war auch da. Auf dem Jahrmarkt. Und hat ihn gehört. Hat Dinge gehört, die sie nie hätte hören dürfen. Von Jeb. Nicht ihre Schuld, dass sie es gehört hat, aber gehört hat sie’s. Wie viel genau, weiß ich nicht, aber auf jeden Fall genug.« Und um sein Gewissen zu beruhigen, das ihn nach seinem rüden Bahnhofsabschied von Emily immer noch plagte: »Wahrscheinlich hat sie gelauscht. Ich kann’s ihr nicht übelnehmen. Sie ist Ärztin. Eine scharfe Beobachterin. Sie muss im Bilde sein. Das ist ihr Beruf.«
Crispin wirkte überrascht, leicht verletzt sogar, dass solche Fragen immer noch im Raum stehen konnten. Aber er war sich trotzdem nicht zu gut, auf sie einzugehen.
»Werfen wir erst mal einen Blick auf Ihren Fall, einverstanden, Kit?«, schlug er milde vor. »Meinen Sie wirklich, das gute alte F. O. hätte Ihnen so einen Posten angetragen – so eine Ehre –, wenn auf dem Felsen von Gibraltar ein Blutbad angerichtet worden wäre? Über das sich auch noch Punter an einem unbekannten Ort bei seinen Vernehmern das Herz aus dem Leib singt?«
»Möglich wäre es«, sagte Kit, der es hasste, wenn Außenstehende die Abkürzung F. O. in den Mund nahmen, bockig. »Um mir den Mund zu stopfen. Mich aus der Schusslinie zu bekommen. Mich vom Reden abzuhalten. Das Foreign Office hat sich schon ganz andere Dinge geleistet. Suzanna traut es ihnen zu. Und ich auch.«
»Dann lesen Sie jetzt meine Lippen.«
Mit gefurchten Brauen tat Kit genau das.
»Kit. Es gab keinerlei – ich wiederhole: keinerlei – Verluste. Möchten Sie, dass ich es noch einmal sage? Nicht ein Tropfen Blut wurde vergossen, egal wessen. Keine toten Kinder, keine toten Mütter. Glauben Sie mir jetzt? Oder muss ich den Empfangschef bitten, uns eine Bibel zu bringen?«
***
Der idyllische Fußweg vom Connaught hinüber nach Pall Mall war für Kit an diesem lauen Frühlingsabend ein einziges trauriges Schwelgen. Jeb, der Ärmste, hatte offenbar einen schweren Knacks davongetragen. Es schnitt Kit ins Herz: ein ehemaliger Kamerad, ein tapferer Exsoldat, von Geldgier und dem Gefühl der Übervorteilung um den Verstand gebracht! Nun, er hatte ihn als einen besseren Mann gekannt, einen Mann, vor dem man Achtung hatte, einen Mann, dem man folgte. Sollten sich ihre Pfade noch einmal kreuzen – was Gott verhüte, aber sollten sie es –, würde er ihm die Hand der Freundschaft nicht vorenthalten. Zum Teufel mit Crispins niedrigen Verdächtigungen. Ihre Begegnung auf dem Bailey’s Green war Zufall gewesen, basta. Dieses gezeichnete Gesicht, das von der Heckklappe zu ihm emporgestarrt hatte – selbst der größte Schauspieler der Welt hätte so etwas nicht vortäuschen können. Jeb mochte psychotisch sein, er mochte an posttraumatischem Stresssyndrom leiden oder mit was für großen Worten wir heutzutage noch alles um uns werfen. Aber für Kit war und blieb er der Jeb, der ihn zum Höhepunkt seiner Karriere geführt hatte, und daran würde nichts etwas ändern.
Und mit dieser schön zurechtgefeilten Formulierung im Kopf trat er in eine Seitenstraße und rief Suzanna an, eine Handlung, der er seit Verlassen des Connaught mit Ungeduld, aber auch einer undefinierbaren Angst entgegensah.
»Gute Nachrichten, Suki« – er blieb bewusst unkonkret, denn Suzanna war, wie ihm Emily unzart unter die Nase gerieben hatte, eher noch sicherheitsbewusster als er. »Wir haben es mit einem sehr kranken Menschen zu tun, der tragischerweise den Boden unter den Füßen verloren hat und die Wahrheit nicht mehr von der Fiktion unterscheiden kann, verstehst du?« Neuer Anlauf. »Niemand – ich wiederhole: niemand – ist bei dem Vorfall zu Schaden gekommen. Suki? Bist du noch dran?«
Lieber Gott, sie weint. Nein, das kann nicht sein. Suki weint nie.
»Suki, Liebling, es ist nichts passiert. Überhaupt nichts. Alles ist gut. Kein Kind ist verwaist. Keine Mutter. Unser Freund vom Jahrmarkt leidet an Wahnvorstellungen. Er ist ein armer,
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