Empty Mile
stach, saß ich in dem stillen, hellen Raum und blätterte Seiten um, die hundertdreißig Jahre vor meiner Geburt geschrieben worden waren.
Das Buch war in grobes Leinen gebunden. An manchen Stellen sah man noch Überreste der ursprünglich grünen Farbe, doch sonst war der Einband überwiegend zu einem unansehnlichen Schiefergrau verblasst. Die ersten zwei Drittel des Buches waren durch einen Wasserschaden unleserlich geworden. Auf den restlichen Seiten sah man eine säuberliche, leicht verschnörkelte Handschrift. Der Name Nathaniel Bletcher stand auf dem hinteren Vorsatzpapier – Millicents Vorfahr, nahm ich an.
Der Goldrausch hatte im Januar 1848 angefangen, als James Marshall Spuren von Gold an der Baustelle einer Sägemühle fand, die er am American River für einen späteren Großgrundbesitzer namens Joseph Sutter erbaute. Kalifornien war damals vergleichsweise dünn besiedelt, doch das änderte sich in den folgenden Jahren, als die Neuigkeit um die Welt ging, dass man reich werden konnte, indem man nichts anderes machte, als Schlamm aus einem Fluss zu schöpfen. 1849 strömten Glücksritter aus allen Teilen der Welt in den Bundesstaat, die meisten auf dem Weg nach Norden zu den Flüssen und Strömen an den Westhängen der Sierra Nevada. Nathaniel Bletcher war einer von ihnen.
Da so viele Leute um Claims wetteiferten, wurde es mit jedem Monat, der verstrich, schwieriger, ein anständiges Einkommen zu erzielen, geschweige denn, groß abzusahnen. Manche Männer zogen deshalb einfach weiter ins Landesinnere, über die bereits bekannten Schürfgebiete hinaus, und suchten einen Fluss oder Bachlauf, der noch nicht entdeckt und von anderen ausgebeutet worden war.
Aus dem Tagebuch ging hervor, dass Nathaniel Bletcher letztendlich zu dieser Vorgehensweise gezwungen worden war. Er begann seine Suche nach Gold am Feather River, wo er einen Monat lang erfolglos an einem Claim arbeitete, bis er ihn verkaufte und zum Yuba weiterzog. An diesem Fluss schürfte er drei Monate und rückte dabei nach und nach zur Gabelung des Südarmes vor. Viele Schürfstellen, die er passierte, waren reich an Goldvorkommen gewesen, doch er kam zu spät, um die Menge zu schürfen, die ihn zu einem reichen Mann gemacht hätte. Und so verließ er den Yuba schließlich, kaufte sich ein Maultier und Vorräte und zog nach Norden in die umliegenden Wälder, die er abzusuchen gedachte, bis er einen unberührten Fluss gefunden hatte.
Es kostete ihn neun Tage, und selbst dann entsprach der erste Fund nicht gerade seinen Erwartungen. Die funkelnde Wasserstraße, die ihn aus dem Wald lockte, war bereits bekannt und trug einen Namen – Swallow River. Zu seiner Enttäuschung waren andere Männer ihm zuvorgekommen und schürften reichhaltige Vorkommen. Aber es waren nicht viele, und aus Gesprächen erfuhr er, dass sie die ersten waren, die so weit am Oberlauf des Swallow suchten.
Er verbrachte zwei Nächte an der Peripherie dieses neuen Prospektorenlagers, doch der Lockruf seines persönlichen El Dorado war so übermächtig, dass er am dritten Tag sein Maultier bepackte und allein noch weiter flussaufwärts zog.
Die Bevölkerungszahl Kaliforniens explodierte infolge des Goldrausches, aber es war auch vorher durchaus nicht unbesiedelt gewesen. Orte trugen Namen, ein Teil des Landes war kartografisch erfasst. Siedler, die keine Ahnung von Gold hatten, stampften Siedlungen aus dem Boden, die hier und da zu kleinen Dörfern zusammenwuchsen.
Ich blätterte zu den Seiten des Tagesbuchs vor, in denen Nathaniel seinen Weg flussaufwärts beschrieb, und suchte nach einem Ortsnamen oder einer Siedlung, nach irgendetwas, das mir einen Anhaltspunkt geben konnte, welchen Teil des Swallow er abgesucht hatte.
Viele Seiten lang fand ich nichts dergleichen. Es wurde fast ausschließlich das mühsame Vorankommen in der Wildnis beschrieben. Gleich nach dem Prospektorenlager strömte der Fluss nicht mehr über das goldhaltige Bett aus Sand und Kies, sondern über flaches Gestein und Felsen, einem Untergrund also, wo sich kaum Goldstaub ansammeln konnte. Nathaniels Tagebucheinträge dieses Abschnitts seiner Reise waren von Niedergeschlagenheit geprägt. Einmal überlegte er sogar, in das Lager der Prospektoren zurückzukehren, weil seine Verluste überhandzunehmen drohten. Am vierten Tag jedoch verfasste er diesen Eintrag:
15 . März 1849
Endlich! Der Fluss wurde ein wenig breiter, und ich lagerte an diesem Abend neben einem Kiesbett, das eine vielversprechende
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