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Ende einer Welt

Titel: Ende einer Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Anet
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durchquerten sie ihn schwimmend, ihre Kleider mit der ausgestreckten
Hand über den Kopf haltend. Am gleichen Abend noch hatten sie
die kleine Karawane der Händler eingeholt.
    »Du sollst meine Tochter sein,« sagte der
Anführer der Kaufleute, »und meine Familie sei auch
die deine.«
    Langsam setzten sie ihren Weg fort. Was hatten sie auch zu
fürchten? Bei den Leuten am Flusse hatte das Einweihungsfest
begonnen. Kein einziger Mann konnte während eines Monats den
Stamm verlassen.
    Beim Abenddämmern bildete sich ein Zug auf der Wiese
vor der Terrasse des Häuptlings. Die jungen Burschen von
achtzehn Jahren und diejenigen, die erst im Sommer dieses Alter
erreichen sollten, waren versammelt. Wer konnte sich noch an die Zeiten
erinnern, da die Nachkommen des großen Bären,
zahlreich wie die Nadeln der Tanne, alljährlich dreihundert
Burschen zu Männern weihten! Nur eine Handvoll
Jünglinge war jetzt die Blüte und die ganze Hoffnung
des Stammes. Oh, daß sie nur rasch zu wehrfähigen
Männern würden, Hüter der Traditionen des
Volkes! Oh, daß sie den bedrohten Stamm retten
könnten! Doch welche Prüfungen mußten zuvor
ertragen werden!
    Sie standen da, zwanzig an der Zahl, groß und
kräftig, obwohl durch dreitägiges Fasten abgemagert.
Nur ihre Mütter waren bei ihnen und einige Männer
über vierzig Jahre.
    Sie ordneten sich jetzt zu einer Reihe. Jeder der Alten
ergriff die vorgestreckte Rechte eines Jünglings, die linke
Hand blieb der schluchzenden Mutter, die rückwärts
stand, überlassen. Herzzerreißend waren die Klagen
dieser unglücklichen Frauen. Sie beweinten ihre geliebten
Kinder, die ihnen entrissen werden sollten, als würden sie in
den Tod geführt; sie beschworen sie, nicht von ihnen zu gehen.
    Diese zogen indessen langsam gegen ein wenig entferntes
Wäldchen. Sie machten drei Schritte, blieben stehen, als
zögerten sie furchtsam und schritten wieder mutig vor. So
zeigten sie das Zögern des Mannes vor einer
gefährlichen Aufgabe, die ihn sein Leben kosten kann. Und
weiterschreitend sangen sie einen männlichen Hymnus, in dem
sie schworen, in allen Gefahren treu zusammenzustehen.
    Auch die Mütter skandierten ihre Klagen nach
überliefertem Takt.
    Als der Zug am Waldessaum angelangt war, schritten die
Jünglinge allein weiter. Die Alten blieben schweigend
zurück; sie hatten ihre Pflicht erfüllt. Die
verlassenen Mütter aber liefen wirr durcheinander, rauften
sich die Haare, jammerten und übertrafen sich gegenseitig, die
Verdienste ihrer Söhne, die sie verloren hatten, zu
rühmen.
    »Wehe, wehe, wehe! Wo ist er hin? Wer bringt ihn mir
zurück? Niemals werde ich ihn wiedersehen! Nicht in zehn
langen Menschenleben findet sich seinesgleichen!«
    Erst mit Einbruch der Nacht kehrten sie zu ihren
Hütten zurück. Hier blieben sie zusammengekauert am
Rand der Terrasse hocken. Sie blickten starren Auges nach dem
Wäldchen, in das ihre Söhne verschwunden waren.
Manchmal drang ein fürchterlicher Schrei von dort
herüber, dann erzitterten und weinten sie. Gegen Mitternacht
versetzte sie ein unfaßbares Schauspiel in Schrecken: aus den
Bäumen stiegen kleine, feurige Kugeln zum dunklen Himmel auf,
beschrieben einen Bogen und verschwanden! Es waren die Seelen ihrer
Söhne, die deren vergängliche Körper
verließen, und dieses sichtbare Zeichen vom Tode der Kinder
steigerte die Klagen der Mütter. Zwanzig Seelen konnte man
zählen, die in den Raum emporflogen: das Schicksal hatte sich
erfüllt.
    Düster und schweigsam verschwanden die Frauen in
ihren Wohnstätten. –
    Allein gelassen, hatten die jungen Leute einen Weisen
getroffen, der sie erwartete. Unter seiner Führung gelangten
sie zu einer Lichtung am Fuße jener Felsen, in denen die
heilige Grotte versteckt lag. Es war schon verbotener Boden, den sie
jetzt betraten. In der Dunkelheit schien es, als ob der Hang vor ihnen,
dem sie noch niemals so nahe gewesen waren, bis zum Himmel reichte. Ein
roter Punkt strahlte vierzig Armlängen hoch über
ihnen.
    Hier legten sie sich in einer Reihe auf den Boden, die Beine
gegen Süden, das Gesicht dem Nordstern zugekehrt und zehn
Schritte einer vom anderen entfernt. Die beiden
Äußersten der Reihe erhoben sich und umkreisten
laufend die anderen. Derjenige, der in der Richtung von Osten nach
Westen lief, kam vor den reglos Liegenden vorbei, der zweite hinter
diesen. So verfolgten sie einander, ohne sich jemals zu erreichen,
darauf

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